20 Jahre Pflegeversicherung – 20 Jahre Privatisierung des Pflegerisikos
Arne Brix, Berlin
Am 22. April 1994 beschloss der Deutsche Bundestag die Einführung der sozialen Pflegeversicherung, die seit dem 1. Januar 1995 - als fünfte Säule neben Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung - im System der sozialen Sicherung besteht. Aber wie viel Sicherheit bietet die Pflegeversicherung? Angekündigt wurde vor mehr als 20 Jahren, dass sie Schutz vor den finanziellen Folgen der Pflegebedürftigkeit gewährleisten würde. Beschützt jedoch wurden nicht in erster Linie Menschen mit Pflegebedarf und deren Angehörige. Vielmehr ging es primär darum, eine Entlastung der Kommunen herbeizuführen, denn diese mussten und müssen Pflegebedürftigen mit Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) unterstützen. Das betraf zu dieser Zeit fast 80 Prozent aller Pflegebedürftigen. Im Hause des damaligen Bundessozialministers Norbert Blüm wurde also angestrengt überlegt, wie diese kommunalen Kosten - die für das Pflegepersonal eingeschlossen - durch Umverteilung gesenkt werden können. Vom Öffentlichen ins Private war ein gewollter und beliebter Weg. Die Folgen waren und sind gravierend. Mit der Pflegeversicherung wurde die Pflege teilprivatisiert, also anteilig auf die Betroffenen und - gegebenenfalls - deren persönliches Umfeld verlagert. Damit wurde ein zentraler Bestandteil der Sozialversicherung entkernt. Der Staat machte die Qualität der Pflege zunehmend von den Einkommen der Betroffenen abhängig. Auch in dieser Frage wurde das Fundament für ein sogenanntes neoliberales Sozialstaatsmodell gelegt, aus dem das Soziale zunehmend verschwindet. Auch hier - davon wird noch die Rede sein - werden die Gewinne privatisiert und die Kosten sozialisiert. Die Entsolidarisierung mit den dauerhaft Kranken und Pflegebedürftigen, die zu den Schwächsten in der Gesellschaft gehören, war eingeleitet. Die - vermeintlich soziale und gerechte - Pflegeversicherung wurde von Anfang an als Teilleistungsprinzip konzipiert und war nie als vollständiger Kostenschutz gedacht. Ganz im Gegenteil.
Mit der Einführung der Pflegeversicherung fand auch eine Erweiterung von Leistungen statt. Im gleichen Atemzug wurden jedoch Prinzipien implementiert, welche die Pflege und die Versorgung der Hilfsbedürftigen auf dem kapitalistischen Markt etablierte. In Deutschland sind insbesondere mit der Standardisierung und Pauschalierung der Leistungen sowie mit der Schaffung eines Anbieterwettbewerbs durch die Gleichstellung privater Träger mit den Wohlfahrtsverbänden so genannte »effizienzorientierte Maßnahmen« verankert worden. Die Pflegewirtschaft prosperiert. Und die »Effizienz« meint seit jeher nicht die nachhaltige bestmögliche Versorgung, sondern die betriebswirtschaftliche Kartierung der Pflegeleistungen.
Die Teilkaskoversicherung spült den Versicherungen Geld in die Kasse und schröpft den Einzelnen
Die zunehmende volkswirtschaftliche Bedeutung und somit die Profitträchtigkeit des sogenannten Pflegemarktes wurde schnell erkannt. Seit der Einführung der Pflegeversicherung entwickelte und entwickelt sich ein dynamischer »Markt«, auf dem Wirtschaftsinteressen weit vor den Interessen der zu Pflegenden stehen. Der Anteil der privaten Träger hat seit 1999 um mehr als ein Viertel zugenommen, während der Anteil der freigemeinnützigen Träger im selben Umfang gesunken ist. Dieser strukturelle Wandel drückt sich folgendermaßen aus: Von den mehr als 12.300 Pflegeheimen (Pflegestatistik: Stand 2011) sind die freigemeinnützigen Träger mit 54% noch führend. Jedoch folgen die privaten Träger mit gut 40%. Gegenüber 1999 ist die Zahl der Pflegeheime um knapp 42% gestiegen. Dies zeigt, dass die Pflegeversicherung in deutlich höherem Maß ein Wachstum der stationären Pflege bewirkt hat als den Ausbau der ambulanten Pflegeinfrastrukturen. Die privaten Träger profitieren mit einer Steigerung um gut 60% am stärksten. Dies hat - entgegen jeglichen Illusionen, die Kosten würden bei Privatisierungen sinken - akute Preissteigerungen für die ambulante und stationäre Pflege zur Folge. Der private Pflegemarkt ist eben lukrativ.
Ein Rechenbeispiel zeigt, dass schon erhebliche Spareinlagen benötigt werden, wenn man als Mensch mit Pflegebedarf einigermaßen selbstbestimmt und ohne finanzielle Unterstützung durch Angehörige oder die Sozialhilfe versorgt werden möchte. Ein Pflegebedürftiger erhält, wenn ihm durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen eine Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe 3) anerkannt wird, ab 2015 etwa 1.612 Euro von der Pflegekasse. Ein Platz in einer Pflegeeinrichtung kostet mit der Pflegestufe 3 monatlich jedoch mindestens 3.500 Euro (inklusive Unterbringungskosten). Bei einer durchschnittlichen Pflegezeit von 8 Jahren ergibt das Kosten in Höhe von über 180 Tausend Euro, die vom Pflegebedürftigen selbst erbracht werden müssen.
Der Pflegebedürftige ist nach der Gesetzeslage erst einmal in der Pflicht, seine eigenen Mittel - also Einkommen und Vermögen - aufzubrauchen. Reicht das nicht aus und der Betroffene hat keine Wertgüter mehr, werden auch unterhaltsverpflichtete Angehörige zur Kasse gebeten - zum Beispiel die Kinder.
In einer solidarischen und humanen Gesellschaft sollte gute Pflege aber nicht von den eigenen finanziellen Möglichkeiten und denen der Angehörigen abhängig sein. Stattdessen sollte die Gemeinschaft die Gesamtverantwortung tragen. Die Pflege und Lebensassistenz sollte sich am jeweiligen individuellen Bedarf des betroffenen Menschen orientieren. Wer eine solche Einstellung teilt, kommt zwingend zu der Überzeugung, dass die Teilkostendeckung der Pflegeversicherung überwunden werden muss. Das propagiert übrigens auch die Versicherungswirtschaft, deren Ziel allerdings rein profitorientiert ist: So viele Menschen wie möglich sollten sich nach deren Vorstellungen am besten frühzeitig aus der Unterversicherung lösen und rein private Pflegeversicherungen abschließen. Diese sind teuer und wenig effektiv, das würde der Versicherungswirtschaft noch größere Haufen Geld in die Kassen spülen.
Anstatt die Leistungen endlich bedarfsgerecht auszugestalten und sich vom Teilkostenprinzip zu verabschieden, liefert die derzeitige Große Koalition mit den »Pflegestärkungsgesetzen« weiteres Stückwerk und bleibt damit auch der alten Logik verhaftet. Das bedeutet für die aktuell etwa drei Millionen Menschen mit Pflegebedarf: Keine Pflege- und Planungssicherheit, weiterhin hohe private Kosten sowie die Verlagerung der originären Pflegeaufgaben in die Familie.
Finanzierung und Pflegevollversicherung
Um eine Pflegevollversicherung dauerhaft zu etablieren, muss ihr eine stabile, gerechte und verlässliche Finanzierung zu Grunde liegen. Denn weder mit den derzeitig noch den zukünftig vorgesehenen Geld- und Sachleistungen wird der jetzige und der ansteigende Pflegebedarf finanzierbar sein. Damit bleibt weiterhin die Frage nach einer langfristigen und nachhaltigen Finanzierung. Eine Antwort gibt es bereits von der LINKEN und einigen Sozialverbänden. Selbst die SPD hat zunächst einmal mit unseren Forderungen Wahlkampf betrieben. Die Rede ist vom Modell der Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege. Das Konzept einer solchen Versicherung ist, die gesamte Bevölkerung zu Pflichtmitgliedern einer einheitlichen Pflegeversicherung zu machen, indem die private Pflegeversicherung mit der sozialen Pflegeversicherung verschmelzen würde. DIE LINKE schlägt dazu demzufolge auch vor, alle Einkommensarten in die Beitragspflicht mit einzubeziehen und die Beitragsbemessungsgrenze abzuschaffen.
Mit der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung könnte der Beitragssatz bei eingerechnetem Ausgleich des Realwertverlusts [Der Realwertverlust meint Leistungen, die sich nicht an die Preisentwicklungen anpassen. Das hat zur Folge, dass man für den gleichen Wert weniger Leistung bekommt.] und einer sofortigen Erhöhung der Sachleistungen um 25 Prozent dauerhaft unter 2 Prozent des Bruttoeinkommens gehalten werden. [Das ist wissenschaftlich belegt durch »Eine Simulationsstudie zu den Entwicklungen der Beitragssätze zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung«, Gutachten von Klaus Bartsch nach dem Konzept einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Januar 2012. Sie ist zu finden unter www.linksfraktion.de/studie-buergerinnenversicherung-kurz bzw. www.linksfraktion.de/studie-buergerinnenversicherung.] Das schüfe finanzielle Sicherheit und Spielraum für eine grundlegende Pflegereform und würde die Grundlage für eine sozial gerechte Beitragsfinanzierung bieten.
Festzuhalten gilt: Jeder Mensch, der auf Pflege-, Betreuungs- oder Assistenzleistungen angewiesen ist, muss die bestmögliche Pflege und Unterstützung erhalten und zwar nach seinem individuellen Pflegebedarf. Jede und jeder sollte dort gepflegt werden können, wo er oder sie es möchte und auch von wem er oder sie es wünscht. Es müssen deshalb endlich auch die Voraussetzungen geschaffen werden, damit pflegenden Angehörigen oder Bekannten keine Nachteile mehr entstehen. Und die Pflege durch Verwandte oder Freunde darf auch nicht aufgrund mangelnder Alternativen erzwungen werden. Das Teilkaskoprinzip in der Pflege muss abgeschafft werden! Eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung muss die finanzielle Grundlage für die dringend notwendige Reform der Pflege bieten. Nur so kann der Pflegenotstand behoben werden, können Einrichtungen besser ausgestattet und faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen für die in der Pflege Beschäftigten geschaffen werden.
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