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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

1968: Gründung der SDAJ – und was davor passierte

Reinhard Junge, Bochum

 

Als Kommunist brauchte man in der alten Bundesrepublik ein besonders dickes Fell – und als Kommunistenkind ebenso. Besonders nach dem KPD-Verbot von 1956 herrschte zu­nächst so etwas wie politische Friedhofsruhe. Das war die Zeit der politischen Gesinnungs­urteile und der Willkürjustiz, die den Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten« ignorier­te: Die Angeklagten mussten ihre Unschuld beweisen.

Ein Beispiel dafür habe ich noch als Schüler erlebt, etwa 1962 im Dortmunder Landgericht. Ein junger Arbeiter (dessen Namen ich nicht mehr weiß) war wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« angeklagt. Der Urteilstenor ging so: Der Mann, vermutlich Kommunist, habe seinen Bruder in Leipzig besucht. Das sei aber wohl kaum eine harmlose Familienvisite gewesen. Als Funktionär des »ostzonalen« FDGB habe der Bruder »mit Sicherheit« (!) ver­sucht, den Besucher zu beeinflussen. Die Behauptung, man habe nie über Politik gespro­chen, sei somit nicht glaubhaft. Derartige Kontakte in die »Zone« seien verboten. Der junge Mann bekam zwei Jahre – ohne Bewährung.

Auch unsere Familie war betroffen. Mein Vater wurde zweimal »verknackt«, weil er als Kommunist bei Wahlen kandidieren wollte - nur mit tausend Tricks schaffte er es, nicht »einfahren« zu müssen. Mutter bekam 9 Monate »auf Bewährung«, weil sie geholfen hatte, für Arbeiterkinder Ferienreisen in die DDR zu organisieren: »Staatsgefährdung«. Wer von der Botschaft der UdSSR die Zeitschrift »Sowjetunion heute« bezog, hatte häufiger Beamte des 14. Kommissariats (K 14), also des »Staatsschutzes«, zu Gast. Dabei wurde oft auch mein Kinderzimmer gefilzt …

»… Muff von tausend Jahren«

Muff herrschte in allen gesellschaftlichen Bereichen. Männer konnten ihren Frauen verbie­ten, arbeiten zu gehen. Geschieden wurde nach dem »Schuld«-Prinzip;  uneheliche Kinder galten als »Schande«. Sexualaufklärung ähnelte einer Seuchenprophylaxe und eine nackte Frauenbrust in einem Kinofilm rief Sittenwächter auf den Plan, die Stinkbomben warfen. Ich wurde in der 7. oder 8. Klasse mal beim Lesen eines Krimiheftes aus der Serie »Kom­missar X« erwischt, auf dessen Titel unter anderem eine Dame im Bikini abgebildet war. Erst nach dem Hinweis, dass es im Schwimmbad jede Menge Frauen im Bikini zu sehen gab, ließ un­ser Chef mich straffrei laufen.

Überhaupt: Unser Direktor. Im Herbst 59 hatte ich in Latein mal wieder gequatscht und musste, die Grammatik in der Hand, in der Ecke stehen. Irgendwer kommentierte das mit einem Satz, in dem der Ausdruck »Chruschtschow-Schwein« vorkam. Da flog meine Gram­matik durch die Luft und traf die Nase des Lästerers. Unsere Lehrerin (eine von zweien, die wir jeweils nur kurzzeitig am Gymnasium hatten) brachte mich zum Chef: »Hier, der Junge ist gemeingefährlich!«

Ausführliches Gespräch, keine Strafe. Doch kurz danach holte mich unser Klassenlehrer in die Lehrerbücherei, plauderte mit mir über meine Ferien in Ungarn und sprach dann über Toleranz, das wichtigste Lernziel dieser Schule: »Ihr sollt eure Differenzen nicht mit Fäus­ten, sondern mit Argumenten klären.«

Erst kurz vor dem Abi erfuhr ich, dass der Chef zur selben Zeit der Klasse die gleiche Standpauke hielt. Auch lud er – getrennt – meine und die Eltern der anderen ein. Diesen Eltern erklärte er: Im Übrigen sei er überzeugt, dass es auch dem mutigen Widerstand der Kommunisten zu verdanken sei, dass man im Ausland nicht alle Deutschen für Nazis halte. Das war 1959 – mitten im Kalten Krieg!

In den Lesebüchern dominierten Anfang der 60er konservative Autoren, darunter von den Nazis gehätschelte Leute wie Agnes Miegel. Heine oder Brecht kamen höchstens mit rela­tiv harmlosen Texten vor, DDR-Autoren vor Hermann Kants »Aula« und Plenzdorfs neuem »Werther« gar nicht.

Das änderte sich erst, als der »Sputnik-Schock« auch die BRD erreichte: Neue Universitä­ten wurden gegründet, die Schulpflicht in zwei Etappen von acht auf zehn Jahre erhöht, das Schulgeld fürs Gymnasium abgeschafft, bald ebenso die Geschlechtertrennung. Es kamen junge, flexiblere Lehrer. In der Oberstufe, also Mitte der 60er-Jahre, haben wir den »Kau­kasischen Kreidekreis« gelesen und bei einer staatlich geförderten Berlinfahrt die »Dreigro­schenoper« im Theater am Schiffbauerdamm angesehen.

Als der Bundestag am 10. März 1965 über eine Verlängerung der Verjährungsfristen für Mord (also auch der Naziverbrechen) debattierte, ließ der Direktor Janßen uns am Radio die Debatte verfolgen und darüber diskutieren – egal, welch ein Unterricht dafür ausfiel.

1962 sollte in Dortmund Bruno Apitz aus dem Roman »Nackt unter Wölfen« lesen. Drei Mann vom K 14 holten ihn vor Beginn aus dem Saal, um ihn in die DDR abzuschieben. Kei­ner von den rund 100 Erwachsenen versuchte, diese Aktion zumindest etwas zu verzö­gern. Immerhin waren viele nur »auf Bewährung« frei. Rund zwei Jahre später lud das Kulturamt zu einer Lesung von Bruno Apitz und dem Dortmunder Arbeiterschriftsteller Max von der Grün, 1964 trat Gisela May mit einem Brecht-Programm in Dortmund auf – Künstler wurden nicht mehr abgeschoben.

Entwicklungen wie diese bahnten sich nur allmählich an. Nach englischem Vorbild fand 1960 in der BRD der erste Ostermarsch der Atomwaffengegner statt – ein kleines Häuf­chen Friedensfreunde. Doch schon Mitte der Sechziger gingen Zehntausende für Demokra­tie und Abrüstung auf die Straße. Hatten sich SPD und die ihre Jugendorganisation »Die Falken« anfangs noch beteiligt, so gab es bald einen Unvereinbarkeitsbeschluss, da der Os­termarsch kommunistisch »unterwandert« sei. Im Ruhrgebiet wurden mehrere Per­sonen ausgeschlossen. Ich durfte wegen meiner Jugend und angesichts »dieser Eltern« Mitglied der »Falken« bleiben, die eine erlebnisreiche, bildungsorientierte Jugendarbeit be­trieben, der ich viel zu verdanken habe. 

Landesweite Proteste gab es im Oktober 1962, als Bundeswehrchef Strauß wegen angebli­chen Geheimnisverrats die Redaktion des Magazins »Der Spiegel« besetzen und mehrere Redakteure verhaften ließ. Er leugnete aber sogar im Bundestag, Urheber der Aktion gewe­sen zu sein. Wenig später kam die Wahrheit heraus und er musste abtreten.

»BILD hat mitgeschossen!«

Bildungsnotstand und der Vietnamkrieg sorgten dafür, dass immer mehr Menschen die of­fizielle Politik kritisch hinterfragten. Während 1965 in Bochum die allererste Universität des Ruhrgebiets gegründet wurde, gab es in Westberlin bereits eine breite Studentenbewe­gung, an der Spitze der Sozialistische Deutsche Studentenbund mit Rudi Dutschke – für Springers »BILD« bald der »Staatsfeind Nr. 1«.

Dann kam der Folter-Schah aus dem Iran nach West-Berlin. Polizei und der iranische Geheimdienst prügelten auf Demonstranten ein, am 2. Juni 1967 erschoss Kripomann Kur­ras den Studenten Benno Ohnesorg – eine bis heute ungesühnte Tat. Aber der Regierende SPD-Bürgermeister musste seinen Hut nehmen.

Seit der Bildung der ersten Großen Koalition unter CDU-Kanzler Kiesinger gab es  nur noch eine echte Opposition: die außerparlamentarische (APO). Republikanische Debattierklubs – oft eher akademischer Art – schossen wie Pilze aus dem Boden, tausend Blumen blühten in der politischen Landschaft, aber eine Farbe fehlte: ein sattes Rot.

Also gründeten wir in Dortmund den Jugendklub »Independent« (»Unabhängig«), mieteten ein paar Kellerräume und luden werktags zu Debatten und an den Wochenenden zu Feten ein. Wir waren erfolgreich – und das nicht nur, weil hier neben echten Zigaretten manch­mal etwas ganz anderes geraucht wurde.

Ausgerechnet jetzt, im April 67, musste ich zur Bundeswehr, hatte aber das Glück, am Ran­de des Ruhrgebiets »dienen« zu können. Bald konnte ich an fast jedem Wochenende und manchmal auch in der Woche den Club besuchen. Von hier aus organisierten wir Demonst­rationen und Konzerte – u.a. mit dem Berliner Oktoberklub.

An Marx' 150. Geburtstag

Ein Lichtblick der im Herbst 66 gebildeten GroKo war Justizminister Gustav Heinemann (SPD). Seine Kanzlei in Essen vertrat viele politisch Verfolgte vor Gericht. Als Minister sorgte er nun für echte Reformen: Gleichberechtigung für Mann und Frau, Abschaffung der Gesinnungsprozesse, Amnestie für viele Opfer. Sein bester Auftritt kam Ostern 1968.

Vier freie Tage. Noch in der Kaserne erfuhren wir am Gründonnerstag von dem Attentat auf Rudi Dutschke. Spontane Proteste in den Städten: »BILD hat mitgeschossen!« Am Kar­freitag bauten wir abends Sperren vor das Springerhaus in Essen, um die Auslieferung des Blattes zu stoppen. Selten so viele Eisenträger geschleppt! Doch es klappte nicht ganz – mit der Schlagzeile »Kein Terror kann uns brechen« rollten die LKWs mit mehreren Stunden Verspätung los.

Am Abend hetzte Kanzler Kiesinger (CDU) in Nazimanier gegen »militante linksextremis­tische Kräfte«. Heinemann – inzwischen Bundespräsident – versuchte zwei Tage später, die Wogen zu glätten: »Wer mit dem Zeigefinger (…) auf (…) die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte bedenken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.« Gewalt sei Unrecht und »Dumm­heit«, aber: »Auch die junge Generation hat einen Anspruch darauf, mit ihren Wünschen und Vorschlägen gehört und ernst genommen zu werden.«

Wenig später erfuhren wir, dass im Mai ein neuer Jugendverband gebildet werden sollte: die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend. Wir wollten dabei sein – und ich hatte wieder mit dem Dienstplan Glück. Am 4. und am 5. Mai, dem 150. Geburtstag von Karl Marx, tra­fen sich mehrere Hundert Delegierte im Essener Schloss Borbeck.

Walter Listl aus Mün­chen hielt in Uniform eine begeisternde Rede gegen den Militarismus, ich trat ebenfalls in Uniform ans Mikro­fon [1]. Nicht alle Kongressteilnehmer fan­den unsere Auftritte richtig, vor allem die Kriegsdienstverweigerer nicht. Aber viele Delegierte waren mit uns der Meinung, dass man die Wehrpflichtigen nicht mit den alten Nazigenerälen allein lassen durfte – vor allem nicht angesichts der drohenden (und Ende Mai beschlossenen) Notstandsgesetze, die einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren ermöglichen sollten. Aber am Ende waren wir alle froh, wieder eine politische Heimat gefunden zu haben.

50 Jahre sind vergangen. Die SDAJ hat lange Zeit eine große Rolle bei der Politisierung der Jugendlichen gespielt. Dass die politische Weltkarte sich derart ändern würde, hat damals keiner ahnen können. Aber das ist ein anderes Thema.

Unser Autor war in den 70er Jahren freier Mitarbeiter beim monatlich erscheinenden Jungendmagazin elan, der Verbandszeitschrift der SDAJ. 

Reinhard Junge, geboren 1946 in Dortmund, lebt in Bochum, wo er nach anfänglichem Berufsverbot von 1979 bis 2012 an einem Gymnasium unterrichtete. Er schrieb unter anderem zwölf Kriminalromane, zu­letzt »Datengrab« (zusammen mit Christiane Bogenstahl, GRAFIT Verlag Dortmund, ISBN 978-38945-480-3, 12 Euro).

 

Anmerkung:

[1] Walter Listls Rede war auch nach Meinung der Bundeswehr deutlich besser als meine: Ich habe dafür nur einen strengen Verweis bekommen, Walter 14 Tage Arrest.

 

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2016-07: KZ Sachsenhausen: »Ausbildungsstätte« für SS-Leute

2015-11: »… treu zu dienen.«

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