12. April 1927: Reaktionärer Wendepunkt der zweiten chinesischen Revolution
Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam
Vor 95 Jahren – am 12. April 1927 – erlebte die zweite chinesische Revolution ihren reaktionären Wendepunkt. Begonnen hatte sie – getragen von einem Bündnis der beiden Parteien Guomindang und Gongchandang (KPCh) – 1925 als national-revolutionäre Bewegung, und ab 1926 hatte sie immer stärker Züge einer sozialen Revolution der Arbeiter und Bauern angenommen. Genau das wollte Guomindangführer Jiang Jieshi (Tschiang Kaischek) nun nicht mehr dulden. Am 12. April um vier Uhr früh ließ er in Shanghai die Gangstertrupps der »Grünen Gilde« zum bewaffneten Angriff auf die mit der Gongchandang verbundene Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung von der Kette.
»Die Stellungen der Arbeiter« – schrieb Harold R. Isaacs in seiner 1938 erschienenen fundamentalen Revolutionsgeschichte – wurden »nach kurzen, erbitterten Kämpfen direkt von den Gangstern erobert. Nachdem ihre Zentralen besetzt waren, wurde mit den Streikposten und ihren Anhängern brutal kurzer Prozess gemacht. […] Jeder Arbeiter, der Widerstand leistete, wurde sofort niedergeschossen. Die übrigen wurden zusammengebunden und abgeführt, um auf der Straße oder im Longhua-Hauptquartier hingerichtet zu werden.« [1] Um die 400 Frauen und Männer wurden an diesem Tag im reaktionären Terror ermordet, Hunderte weitere starben in den folgenden Wochen, als der Terror – nun von Guomindang und lokalen Militärmachthabern gemeinsam ausgeübt und von den imperialistischen Mächten, die China hemmungslos ausbeuteten und ihre Profit- und Einflussinteressen gefährdet sahen, unterstützt – auf andere Städte ausgeweitet wurde.
Damit war die Einheitsfront von Guomindang und Gongchandang durch Jiang Jieshi hinweggeputscht worden. An ihre Stelle sollte ein erbitterter, nicht weniger als 22 Jahre andauernder, mit militärischer Gewalt ausgetragener und Hunderttausende Menschenleben fordernder Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution treten, der erst 1949 mit dem Sieg der von der Gongchandang geführten Volksrevolution, der Flucht der Guomindang-Führung und ihrer Truppen auf die Insel Taiwan und der Gründung der Volksrepublik China ein Ende fand.
Wechselbeziehung zwischen Revolutionen
Trotz ihres reaktionären Umschlagens im April 1927 ist diese zweite chinesische Revolution – die erste hatte 1911 zum Sturz des Kaisers geführt – ein Ereignis, das mit der Oktoberrevolution von 1917 in einem Atemzug genannt werden muss. Li Dazhao, in jenem April 1927 in Beijing vom dortigen Militärmachthaber Zhang Zuolin ermordeter Mitbegründer der Gongchandang, hatte schon 1917 die Wechselbeziehung zwischen den Revolutionen von 1905 in Russland, 1911 in China und 1917 wiederum (mit Februar- und Oktoberrevolution) in Russland betont, [2] und die Revolution von 1925-27 bestätigte ihn nachdrücklich. All diese Erhebungen waren sich gegenseitig befruchtende Teile des Aufbegehrens des Ostens sowohl gegen überkommene gesellschaftliche Strukturen und Herrschaftsverhältnisse als auch gegen die Eroberungs- und Kolonialisierungspolitik des imperialistischen Westens schlechthin.
Dass sich hier nationale und internationale Widersprüche auf einzigartige Weise zum Knoten schürzten, hat der polnisch-deutsche Revolutionsteilnehmer Heinz Grzyb alias Heinz Möller alias M. G. Shippe alias Asiaticus [3] Anfang 1927 – also unmittelbar vor dem Putsch der Guomindang – in einem in China verfassten Beitrag für die in Berlin erscheinende Zeitschrift »Die Internationale« so beschrieben: »Die nationalrevolutionäre Bewegung des chinesischen Volkes ist mit dem raschen Siegeszug der südlichen revolutionären Truppen nach dem Norden [gegen die dortigen Junfa – die Militärmachthaber –, die große Landesteile beherrschten, mit den imperialistischen Mächten kollaborierten und die Entstehung eines Nationalstaates verhinderten – W. A.] in ihre entscheidende Phase getreten. Diese entscheidende Phase charakterisiert sich nicht dadurch, dass es den nationalrevolutionären Armeen in einer Stärke von etwa 70.000 Mann in wenigen Monaten vergönnt war, eine ihr an Zahl und Ausrüstung vielfach überlegene Armeengruppe zu zersetzen, zu schlagen und zu vertreiben. Auch nicht dadurch, dass die national-revolutionäre Bewegung in China mit der Beherrschung der reichsten und entwickeltsten Provinzen mit den wichtigsten Industriezentren der Verwirklichung ihrer Ziele um ein großes Stück nähergekommen ist. Die charakteristischen Grundzüge dieser entscheidenden Phase liegen vor allem darin, dass überall in dem gegenwärtigen revolutionären Krieg die Millionenmassen der armen Bauern und des städtischen Proletariats in den Gang der revolutionären Ereignisse mit Hilfe von ihren Klassenorganisationen eingreifen, zwar noch vorwiegend unter dem Patronat der radikal-kleinbürgerlichen Leitung der Kuomintang [Guomindang], gleichzeitig aber mit der immer stärker werdenden Tendenz, selbständig und führend den Gang der Revolution zu bestimmen. Die durch diese entscheidende Phase der gegenwärtigen Revolution in China immer schärfer hervortretenden Probleme sind durch ihre geschichtliche Neuheit und durch ihre immer innigere Verflechtung nicht nur mit der national-revolutionären Bewegung in den anderen Kolonien des Imperialismus, sondern auch mit der proletarisch-revolutionären Bewegung in den kapitalistischen Staaten von allergrößter Bedeutung für die Weltrevolution.« [4]
Die Weltrevolution. In ihren Dienst hatte sich – so jedenfalls sah er es selbst – auch Jiang Jieshi gestellt, und dies zu wissen ist nicht unwichtig, wenn es zu verstehen gilt, wie sich Guomindang und Gongchandang trotz ihrer sehr unterschiedlichen sozialen Basis und tiefer programmatischer Differenzen überhaupt zu einer Einheitsfront zusammenfinden konnten. Am 26. November 1923 war Jiang in Abstimmung mit dem Guomindanggründer und Kopf der revolutionären Bewegung Sun Yatsen (1866-1925) beim EKKI – dem Exekutivkomitee der Komintern – in Moskau vorstellig geworden und hatte dort erklärt, dass sich »die Basis der Weltrevolution in Russland« befinde, diese aber, »wenn die chinesische Revolution nicht erfolgreich ist«, gefährdet wäre, denn dann würden »die kapitalistischen und imperialistischen Mächte den Sieg in China erringen«, und in der Folge könnten sie »auch den russischen Fernen Osten – Sibirien – überfallen.« Diesen Zusammenhang beschwörend, schlug er – eine Idee von Sun Yatsen vertiefend – vor, »dass Russland, Deutschland (natürlich nach dem Erfolg der Revolution in Deutschland) und China (nach dem Erfolg der chinesischen Revolution) eine Union dreier mächtiger Staaten zum Kampf gegen den kapitalistischen Einfluss in der Welt bilden.« Zur Beförderung dieser Idee hatte er eine Prognose gewagt: »In zwei oder fünf Jahren« könne »die erste Etappe der chinesischen Revolution, das heißt: die nationalistische Revolution, zum Erfolg geführt sein«, und dann könne man »zur zweiten Etappe, das heißt: zur Propagandaarbeit unter kommunistischen Losungen, übergehen«. [5]
Stalin – und das wird den Verlauf der Revolution entscheidend mitbestimmen – nahm diese Äußerungen für bare Münze, »übersah« Jiangs fundamentalen Antikommunismus und betrachtete nicht die Gongchandang, sondern die Guomindang als wichtigsten Verbündeten. Das hatte für die Gongchandang schon im Frühjahr 1926 fatale Folgen. Als Jiang am 20. März in Kanton einen ersten Schlag gegen die kommunistischen Verbündeten führte, um ihren Einfluss zurückzudrängen, setzte Stalin im Politbüro der KPdSU einen Beschluss durch, mit dem ein Bruch der Gongchandang mit der Guomindang für »absolut unzulässig« erklärt wurde. [6] Damit zwang er die Gongchandang zum Stillhalten, schwächte ihre Bindungen zu den Kräften der sozialen Revolution, und er forcierte zugleich den parteiinternen Machtkampf mit Trotzki und Sinowjew, die für eine Trennung der Kommunisten von der Guomindang eintraten. [7]
Blutige Niederlage und Konsequenzen
Jiang Jieshi vollzog diese Trennung am 12. April 1927 auf seine Weise, beendete auch die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, und Stalin – die chinesische Revolution nun endgültig für seine eigene Machtsicherung missbrauchend – vollzog einen Schwenk und trat plötzlich doch für selbstständige revolutionäre Aktionen der Gongchandang ein. Deren Kräfte waren aber bereits erheblich geschwächt, und so wurde der Höhepunkt dieser Aktionen – der Aufstand in Kanton (Guangzhou) vom 11.-13.12.1927 – zu einer vorhersehbar tragischen Katastrophe. Die Guomindang-Truppen erstickten ihn im Blut, Tausende Aufständische verloren ihr Leben.
Asiaticus schrieb dennoch am 25.12.1927 in der »Roten Fahne« von einer »welthistorischen Bedeutung« des Aufstandes. Es habe sich nun endgültig »jene Scheidung vollzogen, die eine tiefe, unüberbrückbare Kluft des Hasses und des Kampfes zwischen der nationalrevolutionären Front der Arbeiter, der Bauern und der übrigen Masse der städtischen Armut auf der einen und der Bourgeoisie auf der anderen Seite schuf.« [8]
Dies klingt im Angesicht der Opferzahlen reichlich verstiegen, hat aber im weiteren Verlauf der Geschichte seine Bestätigung gefunden. Konsequenzen aus der Niederlage in den Städten ziehend, überzeugte der bis dahin noch zur zweiten Reihe der Gongchandang-Führung zählende Mao Zedong mit seinem Konzept, das Zentrum der revolutionären Praxis in den ländlichen Raum und zur Bauernschaft zu verlagern, viele seiner Mitstreiter so nachdrücklich, dass es ihm in den nächsten, stets von schärfsten Kämpfen mit der Guomindang wie auch erbitterten innerparteilichen Auseinandersetzungen geprägten Jahren gelingen konnte, sich als unumstrittener Führer der Gongchandang durchzusetzen.
Anmerkungen:
1 Harold R. Isaacs, Die Tragödie der chinesischen Revolution, a. d. Amerik. übersetzt v. Gisela Bean, Essen 2016, S. 255 f.
2 Vgl. W. A. Kriwzow/W. A. Krasnowa, Li Dazhao. Vom revolutionären Demokraten zum Marxisten-Leninisten, a. d. Russ. übersetzt v. Heinz Bauer, Berlin (DDR) 1981, S. 84.
3 Auf weitere Informationen zur Person Asiaticus soll hier verzichtet werden. Sie sind zusammen mit etlichen von Asiaticus in den 1920er und 1930er Jahren verfassten Artikeln – der im Folgenden hier zitierte ist allerdings noch nicht darunter – nachzulesen auf der von mir betriebenen Website www.asiaticus.de. – W. A.
4 Asiaticus, Probleme der chinesischen Revolution, in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, begründet von Rosa Luxemburg und Franz Mehring, Berlin, Heft 2-3/1927 v. 1.2.1927, S. 61-70, hier: S. 61 f.
5 Zit. nach: VKP(B), Komintern i nacional’no-revoljucionnoe dviženie v Kitae. Dokumenty, t. 1, 1920-1925 (Die KP(B), die Komintern und die national-revolutionäre Bewegung in China, Dokumente, Bd. 1, 1920-1925, S. 299f.) – Die Textwiedergabe folgt meinem Aufsatz: Wolfram Adolphi, Die »Weltrevolution« im nächsten Jahrfünft. Dokumente zum Komintern-China-Verhältnis 1920-1925 in einem deutsch-russischen Gemeinschaftsprojekt, in: UTOPIE kreativ, Heft 59 (September 1995), S. 60-66, hier: S. 61. – Ich habe seinerzeit die entsprechenden Passagen aus dem Russischen übersetzt. Später (vgl. etwa Fn. 6) sind die Dokumentenbände insgesamt auch in deutscher Sprache erschienen. Es könnten bei einem Textvergleich also stilistische Unterschiede sichtbar werden; inhaltliche halte ich für ausgeschlossen. – W. A.
6 Zit. nach: KPdSU(B), Komintern und die national-revolutionäre Bewegung in China, Dokumente, Bd. 2, 1926-1927, Teil 1, S. 52.
7 Ausführlich habe ich diese Auseinandersetzungen dargestellt in: Wolfram Adolphi, Mao. Eine Chronik, Berlin 2009, S. 57-72.
8 Asiaticus, Die neue Revolutionsetappe in China, in: Die Rote Fahne, 25.12.1927, 1. Beilage.
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