"10 Tage, die die Welt erschütterten" (Leseprobe)
John Reed
Nadeshda Krupskaja, 1919, Vorwort zur russischen Ausgabe:
"Zehn Tage, die die Welt erschütterten", hat John Reed sein ausgezeichnetes Buch benannt. Hier sind die ersten Tage der Oktoberrevolution ungewöhnlich eindrucksvoll und stark beschrieben. Es ist keine einfache Aufzählung von Tatsachen, keine Sammlung von Dokumenten, es ist eine Reihe lebendiger, derart typischer Szenen, daß jedem Teilnehmer der Revolution die analogen Szenen, deren Zeuge er war, in Erinnerung kommen müssen. All diese aus dem Leben gegriffenen Bilder können die Stimmung der Massen gar nicht besser wiedergeben – eine Stimmung, auf deren Hintergrund jeder Akt der großen Revolution besonders klar verständlich wird. Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, wie ein Ausländer, ein Amerikaner, der die Sprache und den Alltag des Volkes nicht kannte, dieses Buch schreiben konnte. Ausländer schreiben über Sowjetrußland anders. Sie verstehen die sich vollziehenden Ereignisse entweder überhaupt nicht oder greifen einzelne Tatsachen heraus, die nicht immer typisch sind und verallgemeinern diese. [...]
I. Hintergrund
[...] Der Kampf zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum, zwischen den Sowjets und der Regierung, der in den ersten Märztagen begonnen hatte, war seinem Gipfel nahe. Rußland, das mit einem Satze aus dem tiefsten Mittelalter ins zwanzigste Jahrhundert gesprungen war, bot der erstaunten Welt das Schauspiel des tödlichen Kampfes zweier Systeme der Revolution – der formal politischen und der sozialen. Was für eine unglaubliche Lebenskraft offenbarte diese russische Revolution, nach all den Monaten des Hungers und der Enttäuschung! Die Bourgeoisie hätte ihr Rußland besser kennen sollen. Lange noch wird es dauern, bis die "Krankheit" der Revolution in Rußland ihren Lauf genommen hat. ...
Blickt man zurück, so scheint Rußland vor dem Novemberaufstand einem anderen Zeitalter anzugehören, fast unglaublich konservativ. So schnell haben wir uns dem neuen, schnelleren Leben angepaßt. In dem Maße, wie das russische politische Leben sich radikalisierte, bis die Kadetten als Volksfeinde geächtet wurden, wurde Kerenski "ein Konterrevolutionär"; die "gemäßigten" sozialistischen Führer, Zereteli, Dan, Liber, Goz und Awxentjew, waren zu reaktionär für ihre Gefolgschaft, und Männer wie Wiktor Tschernow, ja sogar Maxim Gorki gehörten zum rechten Flügel. ... Gegen Mitte Dezember 1917 besuchte eine Gruppe sozialrevolutionärer Führer privatim Sir George Buchanan, den britischen Gesandten, und sie baten ihn inständig, nichts davon zu erwähnen, daß sie bei ihm gewesen waren, weil sie als "zu weit rechts stehend" betrachtet wurden. "Man bedenke", sagte Buchanan, "daß noch vor einem Jahr die englische Regierung mir Anweisung gab, Miljukow nicht zu empfangen, weil er so ein gefährlicher Linker war." [...]
II. Der heraufziehende Sturm
[...] Petrowski redete, hart, unerbittlich:
"Jetzt ist keine Zeit für Worte, jetzt muß gehandelt werden. Die ökonomische Situation ist schlecht, aber wir müssen uns daran gewöhnen. Sie versuchen uns auszuhungern, im Frost umkommen zu lassen. Sie wollen uns provozieren. Aber sie sollen wissen, daß sie darin zu weit gehen können – daß, wenn sie es wagen sollten, an die Organisationen des Proletariats zu rühren, wir sie vom Antlitz der Erde wegfegen werden!"
Die bolschewistische Presse wuchs plötzlich an. Neben den zwei Parteizeitungen "Rabotschi Put" und "Soldat" erschien eine neue Zeitung für die Bauern, "Derewenskaja Bednota" (Die Dorfarmut), die in einer Auflage von einer halben Million herauskam, und am 17. Oktober "Rabotschi i Soldat". Dessen Leitartikel faßte den bolschewistischen Standpunkt wie folgt zusammen:
"Ein viertes Kriegsjahr wird die Vernichtung der Armee und des Landes bedeuten. ... Petrograd ist bedroht. ... Die Konterrevolution freut sich über das Unglück des Volkes. ... Die zur Verzweiflung gebrachten Bauern gehen zum offenen Aufstand über; die Großgrundbesitzer und die Regierungsbehörden schicken blutige Strafexpeditionen gegen sie aus; Betriebe werden geschlossen, den Arbeiter droht der Hungertod. ... Die Bourgeoisie und ihre Generale wollen eine blinde Disziplin in der Armee wiederherstellen. ... Von der Bourgeoisie unterstützt, bereiten sich die Kornilowleute offen darauf vor, den Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung zu verhindern. ... Die Kerenskiregierung ist gegen das Volk. Sie wird das Land zugrunderichten. ... Wir stehen auf Seiten des Volkes und bei dem Volk – bei den besitzlosen Klassen, den Arbeitern, Soldaten und Bauern. Das Volk kann nur durch die Vollendung der Revolution gerettet werden. ... Und zu diesem Zweck muß die gesamte Macht in die Hände der Sowjets übergehen. ... Wir treten für folgende Forderungen ein: Alle Macht den Sowjets, in der Hauptstadt sowohl wie in der Provinz. Sofortiger Waffenstillstand an allen Fronten. Ein ehrlicher Friede zwischen den Völkern. Die großen Güter – ohne Entschädigung – in die Hände der Bauern. Kontrolle der Arbeiter über die industrielle Produktion. Eine auf ehrliche Weise gewählte Konstituierende Versammlung."
Hier noch eine interessante Stelle aus demselben Organ der Bolschewiki, die in der ganzen Welt als deutsche Agenten bezeichnet wurden:
"Der deutsche Kaiser, an dessen Händen das Blut von Millionen Gefallener klebt, will seine Armee gegen Petrograd schicken. Man muß an die deutschen Arbeiter appellieren, an die Soldaten und Bauern, die den Frieden nicht weniger wünschen als wir, daß sie aufstehen mögen gegen diesen verdammten Krieg! Das kann jedoch nur eine revolutionäre Regierung tun, die wirklich im Namen der Arbeiter, Soldaten und Bauern Rußlands spricht, die über die Köpfe der Diplomaten hinweg sich direkt an die deutschen Truppen wendet, die die deutschen Schützengräben mit Proklamationen in deutscher Sprache überschwemmen würde. ... Unsere Flieger würden diese Proklamationen in ganz Deutschland abwerfen ..." [...]
Am 23. Oktober tagte das Zentralkomitee die ganze Nacht. Anwesend waren alle Intellektuellen der Partei, die Führer, und die Delegierten der Petrograder Arbeiter und der Garnison. Von den Intellektuellen waren nur Lenin und Trotzki für den Aufstand. Selbst die Militärfachleute lehnten ihn ab. Es wurde eine Abstimmung vorgenommen und der Aufstand verworfen. Da aber erhob sich mit wutverzerrten Zügen ein Arbeiter: "Ich spreche für das Petrograder Proletariat", stieß er rauh hervor. "Wir sind für den Aufstand, macht, was ihr wollt. Aber das eine sage ich euch, wenn ihr gestattet, daß die Sowjets auseinandergejagt werden, dann sind wir mit euch fertig." Einige Soldaten schlossen sich dieser Erklärung an. ... Eine zweite Abstimmung wurde vorgenommen und – der Aufstand beschlossen. Der rechte Flügel der Bolschewiki unter Rjasanow, Kamenew und Sinowjew fuhr trotzdem fort, gegen die bewaffnete Erhebung zu polemisieren. Am Morgen des 31. Oktober erschien im "Rabotschi Put" der erste Teil von Lenins "Brief an die Genossen", eine der kühnsten politischen Propagandaschriften, die die Welt je gesehen. Als Text die Einwendungen Kamenews und Rjasanows nehmend, trug Lenin hier alle Argumente zusammen, die zugunsten des Aufstandes sprachen. "Entweder", schrieb er, "offener Verzicht auf die Losung ,Alle Macht den Sowjets’ oder Aufstand. Einen Mittelweg gibt es nicht." [...]
III. Am Vorabend
[...] Sonntag, 4. November. [...] Der Petrograder Sowjet veröffentlichte ein Manifest, betitelt: "An unsere Brüder, die Kosaken! Man will euch, Kosaken, gegen uns Arbeiter und Soldaten aufhetzen. Diese Kainsarbeit stammt von unseren gemeinsamen Feinden: von den Gewalttätern – den Adligen, Bankiers, Gutsbesitzern, alten Beamten und ehemaligen Lakaien des Zaren ... Sie hassen uns bitter, die Spekulanten, Kapitalisten, Fürsten, der Adel, die Generale, mit Einschluß eurer Kosakengenerale. Sie sind jeden Moment bereit, den Petrograder Sowjet auseinanderzujagen und die Revolution niederzuschlagen. Irgend jemand hat zum 4. November eine Kirchenprozession für die Kosaken organisiert. Es ist eine persönliche Angelegenheit jedes einzelnen, ob er dorthin gehen will oder nicht. Wir werden uns da nicht einmischen oder jemanden hindern. Wir warnen euch aber, Kosaken! Seid achtsam, daß unter dem Vorwand einer Kreuzesprozession eure Kaledins euch nicht gegen die Arbeiter und Soldaten hetzen!" [...]
Während alle Welt erwartete, die Bolschewiki eines Morgens auf der Straße erscheinen zu sehen, um jeden niederzuschießen, der einen weißen Kragen umhatte, ging der Aufstand in Wirklichkeit ganz anders, sehr natürlich und in aller Öffentlichkeit vor sich. Die Provisorische Regierung plante die Entsendung der Petrograder Garnison an die Front. Derselben Petrograder Garnison von zirka sechzigtausend Mann, die einen so großen Anteil an dem Siege der Revolution gehabt hatte. Die Petrograder Truppen waren es gewesen, die die Kämpfe der Märztage entschieden, die die Sowjets der Soldatendeputierten geschaffen und Kornilow von den Toren der Stadt verjagt hatten. Jetzt waren sie zum großen Teil Bolschewiki. [...]
IV. Der Sturz der Provisorischen Regierung
Mittwoch, 7. November. [...] Wir waren am Smolny, dessen massige Fassade ganz in Licht getaucht war. Aus dem Dämmer der angrenzenden Straßen ergossen sich endlose Scharen dunkler Gestalten. Ein unaufhörliches An- und Abfahren von Automobilen und Motorrädern. Aus dem Torweg ratterte ein riesiges elefantenfarbenes Panzerauto mit zwei vom Turm flatternden roten Fahnen. Es war kalt, und die am äußeren Tor postierten Rotgardisten hatten ein Feuer angezündet. Auch am Innentor war ein Feuer, bei dessen flackerndem Schein die Wachen schwerfällig unsere Ausweise durchbuchstabierten und uns von oben bis unten musterten. Von den zu beiden Seiten des Torweges aufgestellten vier Maschinengewehren waren die Segeltuchdecken abgenommen, und von den Bodenstücken hingen die Patronengurte herab. Unter den Bäumen im Hofe stand eine dunkle Herde Panzerautos mit ratterndem Motor. Die endlos langen, kahlen, fast dunklen Korridore hallten wider von dem dumpfen Getöse marschierender Füße, von Rufen und Schreien. Aus dem Treppenhaus wälzte sich eine dunkle Menge: Arbeiter in Blusen und runden schwarzen Pelzmützen, die meisten mit Gewehren bewaffnet; Soldaten in rauhen, erdfarbenen Mänteln und grauen, flachgedrückten Pelzmützen; dann und wann ein Führer – Lunatscharski, Kamenew – inmitten dahineilender, aufgeregt redender Gruppen, mit abgespannten besorgten Gesichtern, riesige Aktenbündel unter dem Arm. Die außerordentliche Sitzung des Petrograder Sowjets war eben vorüber. Ich hielt Kamenew an, einen beweglichen Mann mit breitem, lebhaften Gesicht und kurzem gedrungenem Hals. Ohne Umstände zu machen, las er mir in fließendem Französisch die eben angenommene Resolution vor: "Der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten begrüßt die siegreiche Revolution des Proletariats und der Garnison Petrograds. Der Sowjet hebt insbesondere die Geschlossenheit, Organisiertheit und Disziplin sowie die völlige Einmütigkeit hervor, die die Massen bei diesem außergewöhnlich unblutigen und außergewöhnlich erfolgreichen Aufstand an den Tag gelegt haben. Der Sowjet bringt seine unerschütterliche Überzeugung zum Ausdruck, daß die Arbeiter-und-Bauern-Regierung, die von der Revolution als Sowjetregierung geschaffen wird und die dem städtischen Proletariat die Unterstützung seitens der ganzen Masse der armen Bauernschaft sichert, unbeirrt zum Sozialismus schreiten wird, dem einzigen Mittel zur Rettung des Landes vor den unsagbaren Leiden und Schrecken des Krieges. [...]"
Reed, John: Zehn Tage, die die Welt erschütterten, 21. Aufl. , Dietz Verlag Berlin, 1957, 519 S., Quelle: www.marxistische-bibliothek.de/reed.html, ausgedruckt 128 Seiten.