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Erklärungen

Neustart – ein Begriff, zwei Interpretationen

Erklärung der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE

Die Wahlen zum EU-Parlament waren mehr als ein Stimmungstest. Sie bezeugen die spürbare Zunahme reaktionärer Tendenzen, und das, obwohl die Wahlbeteiligung so hoch war wie seit langem nicht mehr. In verschiedenen Kommentaren der Mainstream-Medien werden die Ergebnisse nationalistischer Parteien mit mehr oder weniger faschistoidem Trend heruntergespielt. Vor den Wahlen war ein Erdrutsch nach rechts angekündigt worden, und nun gibt man sich erleichtert, dass diese Parteien »nur« etwa 120 bis 140 Sitze im EU-Parlament erhalten werden. Es ist verheerend, dass in Großbritannien, Frankreich und Italien ein rechter Durchmarsch zu verzeichnen ist. Und das sind nur die größten europäischen Staaten, für die das zutrifft.

Das sogenannte Skandalvideo von Ibiza hatte nicht den Effekt, Rechtsaußen zu schwächen. Dass in Österreich die Kurz-Partei ÖVP mit 8 Prozentpunkten besser abschnitt als zu den letzten EU-Wahlen, obwohl gerade sie der FPÖ den Regierungsweg gebahnt hatte, und die FPÖ selbst mit 17 Prozent nur 2,5 Punkte unter dem Wahlergebnis von 2014 lag, zeugt von einer alarmierenden Tendenz: Mit der Verschiebung des Diskurses nach rechts verfällt auch jegliche politische Kultur in raschem Tempo. Es ist eben eine Illusion, anzunehmen, ein Skandalvideo würde massenhaft Empörung auslösen, während die wachsende Kriegsgefahr und das Sterben auf dem Mittelmeer mit einer gewissen Gleichgültigkeit hingenommen werden. Diese Wahlen zum EU-Parlament haben erneut bestätigt: Einflussreiche Kreise des Kapitals setzen auf die Möglichkeit, die bürgerliche Demokratie vollends zu zerstören, würde diese die Rahmenbedingungen für Profitmaximierung nicht mehr effizient gewährleisten.

Hierzulande wollen uns bürgerliche Politiker und Journalisten damit beruhigen, dass die AfD mit 11 Prozent weniger Stimmen erhalten habe als befürchtet. Dass das keinesfalls beruhigend ist, werden spätestens die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zeigen und vorher bereits die in zehn Bundesländern am 26. Mai 2019 stattgefundenen Kommunalwahlen. Bei den EU-Wahlen jedenfalls wurde die AfD in Brandenburg und Sachsen stärkste Kraft, und in Thüringen sieht es auch nicht viel besser aus. Schon im Herbst dieses Jahres werden sich daraus politische Konflikte ergeben, die auch dem Letzten die Illusion nehmen dürften, dass das mit der AfD alles nicht so schlimm sei. Bekannt­lich wirtschaften Nazis nicht ab.

Es war ein strategischer Fehler unserer Partei, keinen offen antifaschistischen Wahlkampf geführt zu haben. Wir sind über den bürgerlichen Anti-Rechtskurs nicht hinausgegangen. Wir haben eine ungerechtfertigte Gleichsetzung der internationalistischen Prinzipien der Linken mit der liberalen pro-europäischen Propaganda vorgenommen. So kommt man dem Nationalismus nicht bei. Nationalismus muss entlarvt werden als das ideologische Hauptinstrumentarium des Kapitals: Teile und herrsche ist dessen Devise. Antifaschistischer Wahlkampf muss für eine sich als sozialistisch verstehende Partei untrennbar mit antikapitalistischen Positionen verbunden sein. Hier müssen für die bevorstehenden Landtagswahlen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Glaubwürdigkeitsverluste

Bei den EU-Wahlen in Deutschland musste die CDU eine erhebliche und die SPD eine katastrophale Niederlage einstecken. Umfrageergebnisse, die besagen, an der CDU störe, dass sie den Wirtschaftsinteressen zu nah sei und zu zerstritten, geben Stimmungen realistisch wieder. Die SPD, so lauten sachliche Kommentare, habe sich bei ihrem Kernthema entkernt, der sozialen Gerechtigkeit. Zudem habe sie keine Antworten auf die Fragen der Zukunft. Anders formuliert: Die SPD hat der Regierungsbeteiligungen wegen ihre Identität bzw. das, was als ihre Identität galt, aufgegeben. Sie verzichtet programmatisch seit geraumer Zeit auf das Ziel einer nichtkapitalistischen Gesellschaft und hat spätestens mit der Agenda 2010 weitgehend ihre soziale Funktion aufgegeben. Sie hat die Glaubwürdigkeit verloren. Die Wahlergebnisse von CDU und SPD bringen vor allem zum Ausdruck, dass eine Mehrheit der Menschen offensichtlich zu dem Schluss gelangt ist, dass die Interessen der Abgehängten und derjenigen, denen die Gefahr des sozialen Abstiegs in dieser Gesellschaft droht, durch die sogenannten Volksparteien nicht mehr vertreten werden. Die Wahlergebnisse beider Parteien spiegeln den angehäuften sozialen Konfliktstoff. Das gilt bei weitem nicht nur für Deutschland. Gerade diesem Sachverhalt hat auch DIE LINKE zu wenig Rechnung getragen.

Der große Erfolg der Grünen hängt wohl damit zusammen, dass sie als authentisch emp­funden werden und dass sie durch die Medienberichterstattung über Fridays for Future beste Wahlwerbung erhielten. Da im Wahlkampf auch DIE LINKE den Zusammenhang zwischen Klimakatastrophe und Profitstreben nicht thematisiert hat – und daraus folgend die Grenzen des kapitalistischen Systems für den Klimaschutz – fehlte auch hier die zwingend erforderliche antikapitalistische Kritik. Doch wie auch immer: Die Grünen sind in den Augen ihrer Wähler glaubwürdig.

Offensichtlich hat unsere Partei an Glaubwürdigkeit verloren, nicht zuletzt, weil wir vieler­orts von den bürgerlichen Parteien nicht mehr genügend unterscheidbar sind. Wenn Gregor Gysi kürzlich in der TAZ erklärte, wir seien nicht mehr gefürchtet, so ist das eher ein Teil des Problems. Darauf hier umfänglicher einzugehen, würde heute zu weit führen. Wenn es stimmt, dass die Treue der Grünen zu ihrem Markenkern ihre mit Wählerstimmen be­lohnte Glaubwürdigkeit ausmacht, dann wird wohl auch stimmen, dass es klug gewesen wäre, DIE LINKE hätte – gerade in Anbetracht der großen Gefährdungen für den Weltfrieden – ihren Markenkern besonders betont: Die einzige in den deutschen Parlamenten vertretene Friedenspartei zu sein. Dies offensiv zu tun, wurde unterlassen, und dafür gibt es Gründe – wohlbekannte: Nicht wenige Protagonisten der LINKEN wünschen sich eine Regierungsbeteiligung im Bund. Noch am Wahlabend erklärte Katja Kipping, das Bremer Wahlergebnis habe auch mit der im Landtagswahlkampf erklärten Regierungsbereitschaft der LINKEN zu tun. Das schlussfolgert sie gewiss nicht nur für Bremen.           

Keine Kompromisse in der Außenpolitik

Kürzlich berichtete das »nd« über ein Treffen von Abgeordneten der LINKEN, SPD und Grü­nen am 15. Mai. Dort seien Chancen für ein Regierungsbündnis ausgelotet worden, da die Umfragen den Abgeordneten diesbezüglich Mut machten. Von der Linkspartei nahmen Stefan Liebich, Birke Bull-Bischoff und Matthias W. Birkwald an der Begegnung teil. Die Sozialdemokraten hätten berichtet, es sei jetzt »viel einfacher« als bisher, unter Genossen Unterstützer für »r2g« zu gewinnen, sagte Stefan Liebich im Gespräch mit »nd«. Eine Koalition mache aber nur Sinn, »wenn sie mit einer wirklichen Umverteilung einhergeht«. Die soziale Frage sei für die Linkspartei »die entscheidende«, betonte er. Wenn es hier von den anderen Parteien Entgegenkommen gäbe, »müssen wir in der Außenpolitik zu Kompromissen bereit sein«, findet Liebich. [1] Diese Aussagen sind wohl von denen am 26. Mai nicht zu trennen. Im Kontext mit dem von der LINKEN erzielten unbefriedigenden EU-Wahlergebnis teilte er mit, ein Neustart sei erforderlich. Wir könnten nicht so weitermachen wie bisher. Das Ergebnis müsse uns alle dazu bringen, nachzudenken, wie wir es anders machen können als in der Vergangenheit, und da stünde auch jede Person in Frage.

Auf personelle Spekulationen wollen wir uns hier gar nicht einlassen. Sehr wohl aber auf die Frage, was damit gemeint sein könnte, es anders machen zu wollen als in der Vergangenheit.

Wir rechnen nach den EU-Wahlen und den Bremer Ergebnissen – wie auch immer die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September und in Thüringen am 27. Oktober 2019 ausgehen werden – mit folgendem: Die »Philosophie«, wir müssten im Bund zum Zuge kommen, um die Probleme der Länder und Kommunen zu lösen, wird in Vorbereitung des Erfurter Parteitages im Juni 2020 eine wachsende Rolle spielen. Sollten wir bei den bevorstehenden Landtagswahlen – vorsichtig formuliert – nicht so gut wegkommen, so werden wir einmal mehr zu hören bekommen, programmatische Formelkompromisse würden Wählerinnen und Wähler verunsichern. Klarheit müsse her. Der Versuch  des fds – auf dem Leipziger Parteitag im Juni 2018 noch misslungen – mittels Einsetzung einer Programmkommission eine Programmdebatte loszutreten, wird in Erfurt wohl wiederholt werden. Im Verlauf einer programmatischen Debatte soll dann wohl signalisiert werden, dass DIE LINKE mit der Staatsräson der BRD konform geht. Das beträfe elementar unsere friedenspolitischen Grundsätze. Ein DEMENTI ist erwünscht!

Ulf Poschardt, Chefredakteur der Springerzeitung »Die Welt«, schrieb am 21. Mai: »So vernünftig Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch oder Katja Kipping sein mögen, so abgründig sind die Positionen der Linken zur NATO, zu Maduro, Assad oder Russland, zur Marktwirtschaft oder Bildung.«

Sehen wir einmal davon ab, dass es von der LINKEN keinen positiven Bezug zu Assad gibt, so ist gewiss, dass die Kommunistinnen und Kommunisten in unserer Partei alles tun werden, damit die von Poschardt als abgründig bezeichneten Positionen erhalten bleiben.

Bundessprecherrat der KPF, 27. Mai 2019

 

Anmerkung

[1 ] nd, 18./19. Mai 2019: Träume in Rosarot und Grün, von Jana Frielinghaus.