»Rot-Rot-Grün – was sonst?«
Oder: Wie Die Linke Antifaschismus organisieren soll, ohne den Kampf gegen den deutschen Militarismus zu führen
Bundessprecherrat der KPF
Seit dem 24. September 2025 gibt es das Dokument »Gemeinsamer Aufruf des Forums Demokratischer Sozialismus und des Netzwerks Progressive Linke. Die Erneuerung der Linken organisieren«, welches auf einem Bundestreffen des fds am 29./30.11.2025 in Leipzig besprochen werden soll. [1] Der Bundessprecherrat der KPF hat sich im Rahmen der Programmdebatte mit diesem Papier befasst.
Reine Lehre – was soll das sein?
»Wir brauchen einen Ort«, so heißt es im Aufruf, »wo es möglich ist, auf einer klaren Grundlage über mögliche Antworten auf die … Herausforderungen [2] zu sprechen. Wir wollen Lösungen entwickeln, statt immer wieder die gleichen, unfruchtbaren Debatten über die reine Lehre führen zu müssen«.
Weiter heißt es: »Ein besonderes Anliegen ist uns die Programmdebatte. Sie ist dringend erforderlich, um linke gesellschaftliche Hegemonie und strategische Klarheit zurückzugewinnen. … Zentralismus und bloße Formelkompromisse sind keine Lösung. Wir brauchen eine diskutierende und lernende Partei, die mit der Veränderung der Verhältnisse auch ihre Antworten verändert, selbst wenn das unbequem, verunsichernd und anstrengend ist.«
Nirgendwo im Aufruf findet sich eine Definition des Begriffs »Reine Lehre«. Jeder kann sich alles Mögliche darunter vorstellen. Wie lässt sich solch eine bewusst kryptische Denunziation anderer Meinungen mit dem Wunsch nach einer diskutierenden und lernenden Partei in Übereinstimmung bringen? Entweder man diskutiert miteinander und lernt voneinander oder man schreibt von vornherein Positionen ab, die den eigenen Auffassungen widersprechen. Letzteres kann man ja anstreben, aber dann sollte das auch gesagt werden, statt sich ins Phrasenhafte zu flüchten. Und noch etwas in diesem Kontext: Wo steht geschrieben, dass mit der Veränderung der Verhältnisse auch die Antworten zu verändern sind? Das wird zweifellos häufig der Fall sein, ist aber absolut nicht in jedem Fall zwingend. Die Antwort auf wachsende Kriegsgefahr ist heute mehr denn je der Kampf um die Erhaltung des Friedens. Das fällt ganz sicher nicht unter die Kategorie »Reine Lehre«.
In der Programmdebatte soll linke gesellschaftliche Hegemonie zurückgewonnen werden. Wann hatten wir die je? Wer kann derzeit für sich in Anspruch nehmen, irgendwann strategische Klarheit gepachtet zu haben, die nur zurückgewonnen werden muss? Die Widersprüche in unserer Partei entsprechen denen unserer zivilisatorischen Existenz. Und die ist existentiell bedroht.
Kein Wort über das Wiedererstarken des deutschen Militarismus
Warum findet sich in einem Papier, welches strategischen Wert haben soll, und in dem gefordert wird, »wir müss(t)en die Menschheit davor bewahren, in der planetaren Existenzkrise in den Abgrund zu rasen«, kein Wort über den Kampf gegen das drohende nukleare Inferno, kein Wort über das Widererstarken des deutschen Imperialismus und Militarismus, kein Wort über den neuen deutschen Rüstungswahn, kein Wort darüber, dass eine deutsche Armee wieder die stärkste auf dem europäischen Kontinent werden soll, kein Wort gegen die Reaktivierung der Wehrpflicht und die Militarisierung aller gesellschaftlicher Bereiche, kurz Kriegstüchtigkeit genannt, kein Wort über laut geäußerte Wünsche politischer Protagonisten nach atomarer Bewaffnung, kein Wort über die allgegenwärtige Bedrohungslüge, verbunden mit wieder aufgeflammtem Russenhass, kein Wort über die Kriege der NATO? Stattdessen finden sich folgende Feststellungen:
»Problematisch wird der Wunsch nach der neuen Einfachheit dann, wenn er Widersprüche wegdrückt, Prinzipien aufgibt und falsche Allianzen eingeht. Der Wunsch nach Frieden darf nicht dazu führen, sich von der Idee des gerechten Friedens zu verabschieden. Eine Appeasement-Politik, die die Selbstbestimmung der Ukraine aus Bequemlichkeit opfert, ist ebenso wenig links wie eine Nahost-Politik, die reaktionär-faschistische Kräfte als antikoloniale Befreiungskämpfer durchgehen lässt. … Das heißt nicht, dass eine Kritik der westlichen Ukraine-Politik, eine Mobilisierung gegen den völker- und menschenrechtswidrig geführten israelischen Krieg … nicht notwendig wären.«
Das ist so gut wie alles zum Thema Krieg und Frieden in diesem Papier. Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands in der Ukraine hat natürlich keine Vorgeschichte. Die wortbrüchige NATO-Osterweiterung ist nicht der Rede wert, wenngleich renommierte US-Außenpolitiker wie George Kennan, William Burns oder Henry Kissinger eindringlich warnten, diese führe zu einem Krieg. Dass der Westen die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im April 2022 sabotierte, findet ebenfalls keine Erwähnung. Und die 27 Millionen sowjetischer Opfer im deutsch-faschistischen Vernichtungskrieg gegen die SU sind offenkundig kein Grund für Traumata. Traumatisierung ist immer verbunden mit dem Schwur: Nie wieder! Im 80. Jahr der Befreiung vom Hitlerfaschismus findet sich im Papier kein Wort über legitime Sicherheitsinteressen der Russen, die über Jahrzehnte ignoriert wurden und werden.
»… was sonst?«
Im Papier tauchen die Begriffe Faschisten/faschistisch, radikale/extreme Rechte, rechtsextreme Parteien und AfD insgesamt dreizehnmal auf. Ja, auch wir sehen die faschistische Gefahr, über die es in der Erklärung heißt: »Die Welt droht in die Hände der radikalen Rechten zu fallen. Das ist keine rhetorische Figur, sondern es passiert bereits. In den USA betreibt Donald Trump den Abbau der Demokratie. Viele Länder Europas werden unter Beteiligung rechtsextremer Parteien regiert. Die AfD hat einen klaren strategischen Plan: Sie will die Große Koalition im Bund sprengen, um zu einer Regierungsbeteiligung zu gelangen. Die Stärke der Rechten übt erheblichen Druck auf öffentliche Meinung und Regierungshandeln aus. Immer mehr verbreitet sich die Haltung, die globalen Probleme (Klimakrise, Armut, Krieg) ließen sich ohnehin nicht lösen«.
Und dann folgt eine Charakterisierung der angenommenen Denkweise der extremen Rechten. »Nur eine Politik des nationalen und sozialen Egoismus«, so heißt es im Papier, »könne sich in einer Welt behaupten, die nun mal vom Recht des Stärkeren bestimmt sei«. An anderer Stelle heißt es, es ginge der radikalen Rechten nicht darum, für gesellschaftliche Probleme alternative Lösungen anzubieten, die sich in der Realität bewähren könnten. Ihre Strategie ziele darauf ab, »Unzufriedenheit, Empörung und Entsolidarisierung immer weiter zu steigern, um politische Macht zu erringen. Danach wollen sie den Staatsapparat autoritär umbauen und die meinungsprägenden Institutionen kontrollieren, um ihre Machtübernahme unumkehrbar zu machen«.
Die Linke könne und dürfe diese regressive Strategie nicht nachahmen, wird im Papier kommentiert. Als müsse man irgendetwas tun, damit »Unzufriedenheit, Empörung und Entsolidarisierung« gesteigert werden, als sei das nicht eine – in Zeiten der Hochrüstung und den nicht zuletzt daraus zwangsläufig resultierenden sozialen Verwerfungen – systemimmanente Negativentwicklung.
Bei all dem bleibt im Verborgenen, in wessen Interesse die Rechten das alles wollen. Die höchste Instanz in dem fds/NpL-Papier ist die sogenannte Politik. Die könne alles regeln, wenn sie denn, nach Auffassung der Autoren, folgendes begreifen würde: »Ungleichzeitig und unvollständig ist diese Entwicklung, weil Wirtschaften und Gesellschaften längst über Grenzen hinweg miteinander vernetzt sind, die Politik aber immer noch vor allem von Nationalstaaten gemacht wird. Die Ansätze für eine Politik jenseits der nationalen Ebene sind noch schwach. Außerdem sind es vor allem die Mächtigen, die profitieren. Die Vorteile der Globalisierung werden sehr ungleich verteilt. Weltweit mobile Konzerne und Vermögende gewinnen immer mehr Macht über die Produktions- und Lebensweise und verschärfen durch ihr Handeln die ökologische Existenzkrise. Ihnen gegenüber können nationale Regierungen materielle Umverteilung und demokratische Regulierung kaum mehr durchsetzen«.
An anderer Stelle heißt es ähnlich: »Eine hohe Produktivität, ein aktiver Staat mit großem öffentlichem Sektor, die Vergesellschaftung von Reproduktion durch öffentliche Daseinsfürsorge und eine selbstreflexive, aufgeklärte Gesellschaft bedingen sich gegenseitig und führen zu mehr individueller Emanzipation, mehr Gleichheit und mehr Pluralität«. Dieser Zusammenhang könne heute kaum noch durchgesetzt werden, weil die gesellschaftliche Integration national geblieben sei, während die Profite international gemacht würden.
Nicht die Eigentumsfrage ist die tiefere Ursache für all die existentiell gefährlichen Verwerfungen in unserer Welt. Es fehlt – anders lässt sich das Papier kaum lesen – nur eine Art Weltregierung, die den Zustand beendet, dass Politik von Nationalstaaten gemacht wird. Gehört die Eigentumsfrage etwa auch in den Bereich der »Reinen Lehre«? Und weil wir gerade dabei sind: Dass Faschisten die Kampfreserve für das Kapital sind, wenn die bürgerliche Demokratie keine optimalen Bedingungen für die Profitmaximierung mehr gewährleisten kann, das hatten wir bekanntlich vor mehr als 90 Jahren schon einmal. Müssen wir nun, wenngleich es das schon einmal gab, mit der »Veränderung der Verhältnisse auch (die) Antworten« verändern? Die Antworten suchen fds und NpL nicht in den kapitalistischen Verhältnissen. Gehört auch Horkheimer mit seiner Feststellung »Wer aber über Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Faschismus schweigen.« [3] inzwischen in die Kategorie »Reine Lehre«?
Antifaschismus und die Eigentumsfrage
»In der Auseinandersetzung mit der radikalen Rechten«, so finden wir im Papier, »kämpfen wir auch gegen ein völlig gegensätzliches Verständnis von Politik. Die Linke … muss Antworten geben, die an die gesellschaftliche Debatte anschließen und auf Zustimmung stoßen können, weil sie sich auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit bewegen. Dafür braucht Die Linke eine programmatische und strategische Erneuerung«.
Im abschließenden Teil des Papiers ist formuliert, was das für die Programmdebatte bedeuten soll: »Die konkreten Teile des Programms zu Außen- und Friedenspolitik, sozial-ökologischem Umbau, Arbeit/Soziales, Demokratisierung, Bildung und zur EU sind zeitgebunden und erneuerungsbedürftig. Von den großen gesellschaftlichen Debattenfeldern wären mindestens Wirtschaft und Migration zu ergänzen«.
An anderer Stelle heißt es: »Gegen globalen Rechtsruck, Klima- und Umweltkrise, beschleunigt wachsende Ungleichheit und die Zerstörung der Demokratie brauchen wir eine linke Kraft, die bereit ist, in die Konflikte zu gehen, aber auch Bündnisse zu schließen. Sie soll dazu beitragen, in Deutschland und Europa in absehbarer Zeit Mehrheiten für eine progressive Politik zu schaffen.« Und schließlich: »Es braucht auf Bundesebene eine handlungsfähige Regierungsmehrheit ohne CDU und FDP und unter Einschluss der Linken: Rot-Rot-Grün – was sonst?«
Antifaschistische Politik müsse das Ziel verfolgen, die AfD von jedem Einfluss auf Bundes- und Landesregierungen fernzuhalten. Das könne, bei aller Widersprüchlichkeit, auch Kooperationen mit der CDU erfordern, … Wenn die fortschrittlichen Kräfte nur Bündnisse mit sich selbst schließen wollten, könnten sie Faschisten nicht von der Macht fernhalten.
Nicht antikapitalistische Opposition im Bund soll für Die Linke in diesen Zeiten die notwendige Option sein, sondern das »Bündnis« mit den grünen Bellizisten und der SPD Klingbeils und Pistorius‘. Ein Mützenich und ein Stegner haben auf die politische Linie der SPD eher keinen Einfluss mehr. Sehr wohl aber können sie unsere Bündnispartner in der außerparlamentarischen Opposition, zuvörderst in der Friedensbewegung, sein. Ginge Die Linke heute in eine Bundesregierung, so würde sie automatisch an der Militarisierung der Gesellschaft und der Erlangung von Kriegstüchtigkeit mitwirken und sich somit überflüssig machen. Wir haben keine Illusionen: In der Linken gibt es durchaus einflussreiche Kräfte, die eine Regierungsbeteiligung im Bund um beinahe jeden Preis wollen. »Rot-Rot-Grün – was sonst?« Diese Kräfte wissen, dass Voraussetzung für eine solche Regierungsbeteiligung wäre, die Staatsräson der BRD anzuerkennen, also deren Bündnisverpflichtungen in NATO und der sich enorm militarisierenden EU. Die geltenden friedenspolitischen Prinzipien lassen dies nicht zu. Deshalb sollen sie weg. Das wird die Hauptauseinandersetzung in der Programmdebatte werden.
Antikapitalismus ist hilflos, wenn er halbherzig ist
»Der historische Klassenkompromiss zwischen Arbeit und Kapital«, so heißt es im fds/NpL-Dokument, »wird von der Kapitalseite seit den 1970er Jahren Zug um Zug aufgekündigt. Das klassische sozialdemokratische Versprechen, alle Beschäftigten und Vermögenslosen zumindest am wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben zu lassen, hängt zusehends in der Luft. Davon sind alle Kräfte und Parteien des progressiven Spektrums betroffen. … Die Linke braucht eine realistische, belastbare und beschreibbare Alternative zum Kapitalismus, wie wir ihn heute wieder verschärft erleben, wenn sie ihn ernsthaft überwinden will. Ein hilfloser Antikapitalismus, Zusammenbruchphantasien, oder eine vermeintliche ›Klassenpolitik‹, die sich in anti-westlichen Ressentiments oder anti-demokratischen Ressentiments erschöpft, sind dagegen für den digitalen Monopolkapitalismus und seine Strategie der Spaltung keine Gefahr.«
Der demokratische Sozialismus könne eine neue Aktualität gewinnen, aber nur, wenn er sich erneuerte und auf der Höhe der Zeit weiterentwickelte. Die nationale Beschränktheit von Politik müsse überwunden werden. Staatlichkeit müsse in größeren Einheiten gedacht werden, transnationale Regulierungsformen müssten massiv ausgebaut und demokratisiert werden.
Dann heißt es: »Die Linke muss ihre zögerliche Haltung zum Prozess der europäischen Integration aufgeben und klar sagen: Ohne die Entwicklung der EU zu einem handlungsfähigen, föderalen Staat ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen.«
»Die Linke«, so steht es an anderer Stelle, »muss unwiderruflich brechen mit dem Politikansatz einer autoritären Linken, egal welcher Art, Traditionslinie oder Bewegungsform. Wir wollen keinen Sozialismus ohne Demokratie. … Ein moderner demokratischer Sozialismus hält an der historischen Erfahrung fest: Staatssozialismus ist keine Lösung.«
Es ist nicht untypisch für das Papier: So, wie am gewesenen europäischen sozialistischen Versuch kein gutes Haar gelassen wird, wird der EU – um im Bild zu bleiben – kein Haar gekrümmt. Wir werden in der Programmdebatte weder der von Geschichtskenntnissen völlig entblößten Denunziation des gewesenen sozialistischen Versuchs das Wort reden noch der totalen Kritiklosigkeit, wenn es um die EU geht. Und noch etwas in puncto Geschichtsdebatte: Welcher Salonsozialist will sich erlauben, z.B. mit der Traditionslinie des kommunistischen Widerstands gegen Hitler zu brechen oder mit der des siegreichen Kampfes der Roten Armee gegen den deutschen Faschismus? So einfach, wie manche sich den Verlauf der Geschichte vorstellen, ist es eben nicht.
Es gäbe zum Dokument »Gemeinsamer Aufruf des Forums Demokratischer Sozialismus und des Netzwerks Progressive Linke. Die Erneuerung der Linken organisieren« noch manches zu sagen. Wir haben uns auf die aus unserer Sicht in der Programmdebatte wichtigsten Konfliktpunkte beschränkt. Fds und NpL wollen »die Erneuerung der Linken organisieren«. Wir wollen die positiven Tendenzen der Parteitage von Augsburg, Halle und Chemnitz festigen und die friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei bewahren. Sie waren nie so wichtig wie derzeit!