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Der NATO-Doppelbeschluss von 1979 und der US-Austritt aus dem INF-Vertrag – Parallelen und Unterschiede

Oberst a.D. Bernd Biedermann, Berlin

 

Referat auf der 4. Tagung der 19. Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform am 14. April 2019

 

Was die NATO und die US-Administration bis heute verschweigen, ist die Vorgeschichte des Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979. Es war eben nicht so, dass die Ver­schärfung der Konfrontation ausgelöst wurde durch die Stationierung sowjetischer Mittel- und Kurzstreckenraketen in einigen Ländern des Warschauer Vertrages, sondern durch eine frühere Entscheidung der US-Amerikaner zur Entwicklung von zwei neuen Offensivsystemen auf dem Gebiet der INF (Intermediate Nuclear Forces/Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite).

Bereits 1969 hatte die US Army bei der Firma Martin Marietta das Raketensystem Pershing 2 bestellt und die US Air Force schloss 1970 mit General Dynamics und Boeing einen Vertrag über die Entwicklung und Produktion von Flügelraketen des Typs BGM-109G (Cruise Missiles/CM). Beide Systeme sollten 1975/76 einsatzbereit sein. Diese Entscheidung hatte die sowjetische Militäraufklärung zeitnah aufgeklärt und ihrer politischen und militärischen Führung gemeldet. Es lag auf der Hand, dass diese neuen bodengestützten INF-Systeme ausschließlich für den Einsatz in Westeuropa vorgesehen waren. Durch ihre Reichweite von ca. 2500 km waren sie zugleich in der Lage, einen nicht geringen Teil der Silos mit strategischen Kernwaffen der Sowjetunion z.B. in der Ukraine zu erreichen. Damit wurden sie quasi zu strategischen Waffen und hätten zur Realisierung der Strategie der »realistischen Abschreckung« beitragen können. In Mos­kau war man schon in den Jahren zuvor wegen der bereits stationierten Pershing 1, der Kurzstrecken-Raketen Lance und der Kernwaffen-Artillerie beunruhigt. Mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden der Aufklärung war es nun nahezu un­möglich, die Überführung der neuen Systeme in die unmittelbare Start- bzw. Feuerbe­reitschaft festzustellen. Die Vorwarnzeiten waren danach extrem gering und lagen nun­mehr im Bereich von wenigen Minuten.

Die sowjetischen Militärs wollten und konnten der vorgesehenen Stationierung von 108 Pershing 2 und 464 Cruise Missiles in Europa durch die Dislozierung geeigneter Rake­tensysteme zuvorkommen. Sie waren zu einer sofortigen Reaktion in der Lage, weil sie über entsprechende mobile Systeme bereits verfügten (SS-20/RSD-10, SS-4/R-12, SS-5/R-14, SS-12/OTR-22, SS-23/OTR-23). Ob diese harte Entscheidung in jeder Hinsicht notwendig bzw. alternativlos war, mag dahingestellt sein. Wirksam war sie allemal. Die­se unmittelbare und wirkungsvolle Reaktion auf die bevorstehende Aufstellung neuer INF in Westeuropa führte zum sogenannten Doppelbeschluss.

Er bestand aus zwei Teilen:

  1. Aufstellung der neuen Raketen und Marschflugkörper (Pershing 2 und BGM-109 Tomahawk) in Westeuropa und
  2. Einleitung von Verhandlungen für eine Rüstungskontrolle zur Begrenzung der INF. 

Ein Höhepunkt der militärischen Konfrontation: 1984

Wegen zunehmender Widersprüche in der NATO, vor allem auch unter dem Druck der in den 1980er Jahren immer stärker werdenden Friedensbewegung, verzögerte sich die Stationierung der neuen INF.

Der gesamte Prozess lief nicht ohne Komplikationen und Irritationen ab. Ende 1984/Anfang 1985 hatte es tatsächlich den Anschein, die Friedensbewegung könne die Aufstellung der neuen INF-Systeme vereiteln. In dieser Phase der Entwicklung hatte die Militäraufklärung der Staaten des Warschauer Vertrags eine hohe Verantwortung. Sie musste vorher einschätzen, wie sich die Dinge in diesen Ländern bzw. Regionen entwickeln werden. Davon hingen nicht nur militärische Entscheidungen ab. Auch die Sicherheits- und Außenpolitik musste danach gestaltet werden. Im Unterschied zur politischen Abteilung unserer Botschaft in Brüssel, die einen Erfolg der Friedensbewe­gung vorhersagte, kam der Bereich des Militärattachés zu der Einschätzung, dass das belgische Parlament letztlich der Stationierung einer Staffel Cruise Missiles in Floren­nes zustimmen wird. Tatsächlich trafen dann am 28. August 1984 die ersten CM in Bel­gien ein. Die Parlamente der Niederlande, Italiens, Belgiens und der Türkei haben unter dem Druck der USA ebenfalls ihre Zustimmung gegeben. Damit hatte die militärische West-Ost-Konfrontation einen neuen Höhepunkt erreicht.

Vorläufiges Ende des Kalten Krieges

1985 bot die Sowjetunion, die inzwischen in schwieriges politisches und wirtschaft­liches Fahrwasser geraten war, weitreichende atomare Abrüstungen an. Gorbatschow und Reagan einigten sich dann 1987 auf einen detaillierten Vertrag zum Rückzug, zur Vernichtung und zum Produktionsverbot atomar bestückter, landgestützter Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km. Mit der Unterzeichnung des sogenannten INF-Vertrages wurde diesem gefährlichen Spuk ein Ende gesetzt. Es zeigte sich: Wenn auf beiden Seiten der politische Wille für eine einvernehmliche Lösung vorhanden ist, dann findet man sie auch. Ungeachtet der zum Teil sehr unterschiedlichen Motive so­wohl der USA als auch der Sowjetunion für diese erste echte Abrüstungsvereinbarung stand dahinter zweifellos auch die Erkenntnis, dass keine der beiden Seiten eine einsei­tige militärische Überlegenheit erreichen konnte.

Gemäß Artikel IV des INF-Vertrages sollten in zwei Etappen mit einer Gesamtlaufzeit von nur drei Jahren alle Raketen dieser Kategorie auf beiden Seiten vollständig beseitigt werden. Wie sich bald erwies, waren die meisten selbsternannten Abrüstungsexperten und Möchtegern-Militärs nicht in der Lage, die militärischen und technischen Bestim­mungen des Vertrags überhaupt zu verstehen, geschweige denn, an ihrer Realisierung mitzuwirken. Allein im Artikel II waren 15 Begriffe definiert, die selbst spezialisierte Of­fiziere verwandter Waffengattungen beider Seiten nicht ohne weiteres erfassen konn­ten.

Schon im Frühjahr 1988 fanden die ersten gegenseitigen Kontrollen vor Ort statt. Dass die Inspektoren bei ihren Einsätzen vor Ort häufig Zivil trugen, mag den einen oder anderen überrascht haben. Wir wussten sehr wohl, dass es fast ausschließlich Offiziere waren, und empfanden das als eine gewisse Genugtuung.

In den folgenden Jahren entspannte sich vor dem Hintergrund der laufenden Ver­trauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen die Lage in Europa. Manöverbe­obachtungen und Inspektionen trugen dazu bei, das über viele Jahre aufgebaute gegen­seitige Misstrauen abzubauen. Es begann ein Umdenken in Bezug auf die Kategorie »potenzieller Aggressor«. Das Gleichgewicht des Schreckens hatte zu einer latenten Kriegsgefahr geführt. Letztlich war diese Situation Ausdruck der Unfähigkeit der politischen Führer beider Seiten, maßvoll mit den realen Widersprüchen umzugehen.

Zugleich wurde deutlich, dass die Länder Europas komplett »kriegsuntauglich« waren. Ihre komplizierte Infrastruktur wäre auch in einem konventio­nellen Krieg nach ein bis zwei Tagen zusammengebrochen. Das öffentliche Leben hätte nicht mehr funktioniert. Der einzige vernünftige Weg aus diesem Dilemma führte über Rüstungsreduzierung und Abrüstung. Die 40-jährige Periode des Kalten Krieges, in der der militärische Faktor zum bestimmenden Element der Politik geworden war, fand ein vorläufiges Ende.

Zu neuer Konfrontation mit Russland

Nach der Auflösung des Warschauer Vertrags und dem Ende der Sowjetunion dauerte es nur wenige Jahre, bis die USA erneut auf ihre militärische Stärke setzten, um überall da, wo sie es für erforderlich hielten, ihre Interessen durchzusetzen. Mit den Kriegen auf dem Balkan und der NATO-Osterweiterung kam es zu einer neuen Konfrontation mit Russland.

Den Vorwurf, Russland würde den INF-Vertrag mit Cruise Missiles mittlerer Reichweite unterlaufen, gab es schon vor Jahren. Es wurde behauptet, die neue russische Flügelra­kete SSC-8 (9M728/9M729/Iskander) sei ein Verstoß gegen den bestehenden Vertrag. Sie wurde zum Zankapfel des INF-Vertrags. Fakt ist jedoch: Das Treibstoffvolumen von Lenkwaffen dieses Ausmaßes – und damit ihre Reichweite – unterliegt physikalischen Gesetzen und ist nicht beliebig zu erhöhen. Im Falle der SSC-8 hat die öffentliche Vor­führung eines Musters im Startcontainer deutlich gemacht, dass ihre Reichweite unter 500 km liegen muss.

Am 20. Oktober 2018 drohte der US-Präsident offen damit, den Vertrag zu kündigen, und am 2. Februar 2019 setzten die USA ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag aus. Sie leiteten das 6-monatige Verfahren zum Austritt aus dem Vertrag ein. Somit wird der INF-Vertrag am 1. August 2019 außer Kraft gesetzt. Inzwischen erklärte Russland eben­falls den Vertrag als ausgesetzt. 

Folgt ein neues Wettrüsten?

Die Konsequenz der endgültigen Kündigung des INF-Vertrages für Europa bestünde darin, dass die Zeit um 35 Jahre zurückgedreht werden würde. Daran kann kein ver­nünftiger Mensch interessiert sein. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Äußerung von Außenminister Maas, sich für die Rettung des Vertrags einzusetzen. »Die­ses Abkommen berührt lebenswichtige Interessen Europas. Solange es noch eine Chance gibt, das Abkommen zu erhalten, wollen wir mit allen diplomatischen Mitteln dafür kämpfen.«Da bleibt nur zu hoffen, dass die Bundesregierung sich aktiv in diesem Sinne einbringt.

Am 20. Februar 2019 hat Präsident Putin die US-Regierung erneut aufgefordert, die Reichweiten und Geschwindigkeiten der russischen Waffen zu berechnen und keine falschen Entscheidungen zu treffen. »Wir sind nicht an einer Konfrontation interessiert und wollen das auch nicht mit einer Weltmacht wie den USA.«

Während in der INF-Frage von US-Seite nur unbewiesene und unbegründete Anschuldi­gungen kommen, setzen sie zugleich ihre Aktivitäten auf diesem Gebiet uneinge­schränkt fort.

Mit der Entfaltung des landgestützten Aegis-Raketenabwehrsystems im Mai 2016 in Ru­mänien und jetzt in Polen verstoßen sie eindeutig gegen den INF-Vertrag. Mit der Universalstartanlage Mk.41 von Aegis können auch Cruise Missiles vom Typ Tomahawk verschossen werden. Deren Reichweite liegt bekanntlich deutlich über 500 km und macht sie damit zu einer Erstschlagwaffe. Wahrscheinlich liegt hier einer der Gründe dafür, dass die USA aus dem INF-Vertrag aussteigen wollen. 

Dabei spielt Kaliningrad eine besondere Rolle. Seit Februar 2018 sind dort russische Iskander-Raketen stationiert. Die Brigade verfügt über 12 Startrampen mit je zwei Ra­keten. Russland wäre damit in der Lage, eine optimale Antwort auf die Bedrohung durch Anlagen des US-Raketenschilds in Europa zu geben. Die Iskander-Raketen sind kaum abzuwehren und haben eine hohe Treffsicherheit. Ihre konventionellen Gefechts­köpfe sind zum Teil dreifach ausgelegt. Sie könnten damit einem »prompt global strike« (überraschender globaler Schlag) begegnen.

Im Unterschied zur Situation der 1980er Jahre stehen heute nicht mehr nur zwei Staa­ten vor der Lösung eines Problems, sondern mehrere. Gerade bei Mittelstreckenwaffen verfügen mit China, Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan und Saudi-Arabien weitere Länder über solche landgestützten Systeme. Dabei sind die chinesischen Raketen Dongfeng 21 ein besonderer Dorn im Auge der US-Militärs, weil sie die Bekämpfung von Flugzeugträ­gern erlauben, wenn sie sich noch außerhalb der Reichweite ihrer bordgestützten Flug­zeuge befinden. Damit ist der Offensivcharakter der Trägergruppen in der asiatisch-pa­zifischen Region praktisch aufgehoben.

Ein weiterer bedeutsamer Unterschied der gegenwärtigen Situation zu damals besteht darin, dass selbst aufmerksamste Beobachter und Analysten in Russland keine Vorbe­reitungen des Landes auf einen möglichen Krieg erkennen können.

Anders sieht es in Deutschland aus. Im Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr von 2016 wird ausdrücklich eine Stärkung der Resilienz (Widerstands­fähigkeit) und Robustheit des Landes gegenüber aktuellen und zukünftigen Gefährdun­gen gefordert. Die Frage ist doch: Ist die Bundesrepublik einer militärischen Bedrohung ausgesetzt oder nicht?

Fakt ist: Unser Land ist weder mit einer unmittelbaren noch mit einer mittelbaren mili­tärischen Bedrohung konfrontiert. Sieben von neun unserer Nachbarländer sind Mit­glied der NATO. Österreich ist zwar nicht in der NATO, aber in der EU, und von der Schweiz als neutralem Staat geht auch keine Gefahr für uns aus.

Laut ihrer Militärstrategie von 2015 sind die USA darauf vorbereitet, jede Art von Gewalt anzuwenden, den Krieg zu gewinnen und den Gegner entscheidend zu schlagen. Sie würden es vorziehen, sich gemeinsam mit anderen zur Wehr zu setzen, würden aber auch allein handeln, wenn es die Situation erfordert.

Das heißt: Die US-Streitkräfte würden ihre Basen in Deutschland auch dann nutzen, wenn sich die Bundesregierung aus dem Krieg heraushalten wollte. Deshalb muss der Stationierungsvertrag umgehend gekündigt werden. Eine erneute Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen der USA und der NATO auf deutschem Boden und in der EU muss verhindert werden.

Zur Zeit bewegt uns die Frage: »Wird es ein neues Wettrüsten geben?« Aus materia­listisch-dialektischer Sicht lautet die Antwort:

Die Gefahr eines multilateralen Wettrüstens in mehreren Regionen ist groß. Die Erosion des Rüstungskontrollsystems verringert die Aussicht auf konstruktive Schritte zur nu­klearen Abrüstung.  

Fazit

Durch den Zerfall des INF-Vertrags zerstören die USA eine der Säulen des START-Ver­trags. Eine Verlängerung dieses Vertrags oder ein neues Abkommen als Ersatz wäre sowohl im Interesse Russlands als auch der USA und der gesamten internationalen Ge­meinschaft.   

Es gibt zur weiteren Aufrüstung nur die Alternative: Rüstungsbegrenzung und Ab­rüstung!

Der Abschluss und die Realisierung des INF-Vertrags von 1987 waren ein deutlicher Be­weis dafür, dass es bei entsprechendem politischen Willen möglich ist, der Kriegsgefahr zu begegnen.  

April 2019

Dem Bericht des Sprecherrates folgte auf der Bundeskonferenz dieser Beitrag als zweites Referat.

Bernd Biedermann begann nach dem Abitur 1960 als Freiwilliger den Wehrdienst in der NVA und ent­schied sich dafür, Berufssoldat zu werden. Er absolvierte die Flak-Artillerie-Schule in Potsdam und wurde 1962 zum Offizier ernannt. Danach versah er Dienst in der Truppe und nahm jahrelang am Diensthaben­den System der Luftverteidigung teil. Von 1968 bis 1971 studierte er an der Militärakademie in Dresden, die er mit einem Sonderdiplom abschloss. Er verblieb zunächst als Fachlehrer an der Militärakademie, bis er 1973 zur Aufklärung versetzt wurde. Anschließend absolvierte er einen Lehrgang für den Aus­landsdienst und 1974 ein Praktikum beim Militärattaché in Beijing. Dem schloss sich ein einjähriger Kurs an einer sowjetischen Militärakademie an. Von 1979 bis 1982 war er Gehilfe des Militärattachés in Beijing und von 1984 bis 1988 Militär-, Marine- und Luftwaffenattaché bei der Botschaft der DDR in Brüssel und Luxemburg. Danach versah er Dienst im Bereich Aufklärung und im Verifikationszentrum des Ministeriums für Nationale Verteidigung. 1988 war er als Manöverbeobachter in der BRD und 1989 in Frankreich eingesetzt. Nachdem er am 3.10.1990 von der Bundeswehr als Oberst übernommen wurde, diente er noch einige Wochen in der Bundeswehr. Er beendete seine aktive Laufbahn auf eigenen Ent­schluss am 31.12.1990. Von 1991 bis 2002 war er in leitenden Positionen bei privaten Unternehmen in der Kampfmittelräumung tätig. Er lebt in Berlin und ist als Publizist und Buchautor tätig.

 

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