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100 Jahre Feindbild Russland – eine Konstante in der Politik des deutschen Imperialismus

Gerhard Pein, Arnstadt: Diskussionsbeitrag auf der 4. Tagung der 19. Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform

Als 1991 durch den damaligen Präsidenten der USA George Bush sen. und den Präsiden­ten der bereits im Zerfall begriffenen Sowjetunion das Ende des Kalten Krieges verkündet wurde, waren viele Menschen in Europa und der ganzen Welt voller Hoffnungen – wie sich herausstellte: voller Illusionen.

So wie es nach dem I. Weltkrieg zu einem zweiten noch verheerenderen Weltkrieg kam, so muss man feststellen, dass nach dem ersten Kalten Krieg längst ein zweiter Kalter Krieg gegen Russland entfesselt wurde. Wieder pflegt der deutsche Imperialismus sein Lieblings­feindbild, wie seit mehr als 100 Jahren.

Am 1. August 1914 erklärte Deutschland Russland den Krieg. Damit weitete sich der Kon­flikt zwischen Österreich/Ungarn und Serbien zum Weltkrieg aus. Fünf Tage später tönte Wilhelm II. in seinem berühmt-berüchtigten Aufruf an das deutsche Volk:

»Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen!«

In einem Augenblick wie diesem, in dem die Kriegsgefahr in Europa, ohne dass dies von der breiten Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis genommen wird, ständig steigt, sollte man der geschichtlichen Wahrheit ins Auge sehen, um die Gegenwart zu begreifen.

Am 21. Juli 1914 telegraphierte der russische Zar an den deutschen Kaiser:

»In diesem so ernsten Augenblick bitte ich dich inständig, mir zu helfen. Ein schmählicher Krieg ist einem schwachen Land erklärt worden (gemeint ist die Kriegserklärung Öster­reich/Ungarn an Serbien). Die Entrüstung hierüber, die ich völlig teile, ist in Russland ungeheuer. Ich sehe voraus, dass ich sehr bald dem Druck, der auf mich ausgeübt wird, nicht mehr werde widerstehen können und gezwungen sein werde, Maßregeln zu treffen, die zum Kriege führen werden. Um einem Unglück wie es ein europäischer Krieg sein würde, vorzubeugen, bitte ich dich im Namen unserer alten Freundschaft alles dir Mögliche zu tun, um deinen Bundesgenossen (gemeint Österreich/Ungarn) davon abzuhalten, zu weit zu gehen.«

Am 31. Juli 1914 telegraphierte Zar Nikolaus II. an Wilhelm II. unter anderem:

»Wir sind weit davon entfernt, einen Krieg zu wünschen. Solange die Verhandlung mit Österreich über Serbien andauern, werden meine Truppen (gemeint die russischen) keine herausfordernde Mission unternehmen. Ich gehe dir mein festestes Wort darauf. Ich ver­traue mit aller Kraft auf Gottes Gnade und hoffe auf den Erfolg deiner Vermittlung in Wien für die Wohlfahrt unserer Länder und den Frieden Europas.«

Am Vormittag des 1. August 1914 schrieb der russische Zar an Wilhelm II, der möge doch alles tun, um ein Blutvergießen zu vermeiden. Nicht zuletzt um ihrer alten bewährten Freundschaft willen. Wenige Stunden später erklärte Deutschland Russland den Krieg.

Am 4. August 1914 gab für die sozialdemokratische Fraktion im damaligen Deutschen Reichstag der Abgeordnete Hugo Haase folgende Erklärung ab:

»Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despo­tismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen.«

Mit dieser Begründung stimmte die Sozialdemokratie den Kriegskrediten zu.

Am gleichen Tage wurde folgende Pressemeldung verbreitet, und zwar unter der Über­schrift »Französische Flieger werfen bei Nürnberg Bomben«: »Ein Bruch des Völkerrechtes. Berlin, 2. August 3,15 Uhr nachmittags. Soeben läuft eine militärische Meldung ein, daß heute vormittag französische Flieger in der Umgebung von Nürnberg Bomben abgeworfen haben. Da eine Kriegserklärung zwischen Deutschland und Frankreich nicht erfolgt ist, liegt ein Bruch des Völkerrechts vor.«

Bekanntlich hatten Flugzeuge im Jahre 1914 gar keine ausreichende Reichweite, um von Frankreich nach Nürnberg und zurück zu fliegen. Heute würde man eine solche Meldung als Fake News bezeichnen.

Zweiter Kalter Krieg gegen Russland

Der Autor hat diese Zitate bewusst gewählt, weil sie in einer Zeit, in der Europa zurück in einen neuen Kalten Krieg getrieben wurde, eigentlich nur betroffen machen können.

In den letzten 20 Jahren, beginnend mit dem Kosovo-Krieg 1999, wurde die Welt zurück in einen neuen Kalten Krieg getrieben. Im Jahre 2003 erfolgte die einseitige Kündigung des ABM-Vertrages, des Vertrages über das Verbot von Raketenabwehrsystemen, durch die USA.

Im Jahre 2008 schlug Russland vor, wenn schon ein Raketenabwehrsystem in Europa auf­gebaut werden müsse, dann solle es ein gemeinsames internationales sein, nämlich unter der Beteiligung der USA, der Europäischen Staaten und Russlands. Der Initiator, der dama­lige russische Präsident, erhielt hierfür weder eine Antwort des Westens, geschweige denn einen Friedensnobelpreis. In der Zwischenzeit haben die USA in Rumänien und Polen Ab­schussrampen für ihr Raketenabwehrsystem aufgebaut. Diese können auch zum Abschuss von Marschflugkörpern und Mittelstreckenraketen genutzt werden.

Unter dem Vorwand, Russland habe einen Marschflugkörper mit einer Reichweite von 2.400 km entwickelt, wurde nun seitens der USA der INF-Vertrag, der Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen, gekündigt. Am Rande: Die Tomahawk-Marschflugkörper der USA, die auf amerikanischen und britischen Atomunterseebooten installiert sind, ha­ben eine Reichweite von 2.500 km.

Zwischenzeitlich operieren deutsche Panzer wieder 150 km von Sankt Petersburg entfernt, um, wie es heißt, Russland abzuschrecken. Dass der jetzige russische Präsident aus dem einstigen Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, stammt und seine Mutter mit dem älteren Bruder die 900-tägige Belagerung durch die deutsche Wehrmacht erleiden musste, an deren Ende 900.000 Menschen den Tod fanden, wird von unseren Medien natürlich nicht thematisiert. Der ältere Bruder starb im Kindesalter und gehört zu den 900.000, die während der Blockade ihr Leben verloren. Dass unter diesen Umständen und den histori­schen Erfahrungen Russland ein mindestens so sensibles Sicherheitsbedürfnis hat wie der Staat Israel, interessiert im Westen und in Deutschland offensichtlich niemanden.

Die einzige Konstante in der Politik des deutschen Imperialismus ist das Feindbild Russland. Dabei ist es völlig unerheblich, ob dort ein autokratischer Zar oder ein demokratisch gewähl­ter Präsident regiert.