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Haben wir den Mut, unseren Verstand zu verwenden

Diskussionsbeitrag von Moritz Hieronymi, Peking

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

»Sie müssen sich daran erinnern, was Amalek uns angetan hat«, ermahnte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seine jüdischen Gefolgsleute, nachdem die Militäroperation im Gaza-Streifen veranlasst wurde. Diese Gleichsetzung des Krieges gegen die Hamas mit der biblischen Schlacht zwischen dem Volk Israel und dessen Erbfeind, dem Volk der Amalekiter, hatte weltweit zu Entsetzen geführt. Denn es heißt es im 1. Buch Samuel:

»Darum zieh jetzt in den Kampf und schlag Amalek! Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!«

Es wäre ein großer Fehler, diese Worte Netanjahus nicht in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen. Das Bild Amalek steht in der Bibel als Vorbote der Schlacht zwischen David und Goliath.

Admiral Ami Ajalon, ehemaliger Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, bediente sich jüngst dieser Darstellung und ordnete die gegenwärtige Situation im Gaza-Streifen in einen internationalen Kontext ein:

»Wenn die Amerikaner dieses Mal den Konflikt nicht befrieden, werden in fünf Jahren die Chinesen die Region beherrschen.«

Chinas geopolitische Ambitionen zeigen sich zusehends im Nahen Osten. So wird vermutet, dass Peking mithilfe der arabischen Gemeinschaft eine großangelegte diplomatische Initiative zur Schaffung eines Palästinenser-Staates begonnen hat. Dass die Volksrepublik diese Herkulesaufgabe bewältigen könnte, bewies sie am 10. März, als in Peking die Erzrivalen Saudi-Arabien und Iran sich auf die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen einigten. Dass wenige Monate später beide Staaten mit Ägypten in die Staatenkooperation BRICS aufgenommen wurden, deutet auf eine strategische Umorientierung im Nahen Osten hin.

Zeitgleich mussten die USA seit dem 7. Oktober einen momentanen Einflussrückgang hinnehmen. Die von Präsident Trump initiierten Abraham Accords, die zur arabisch-israelischen Normalisierung führen und zum Bollwerk gegen Teheran – mithin gegen Peking – anwachsen sollten, werden sich in Anbetracht der Bilder aus Gaza in den arabischen Staaten so nicht mehr realisieren lassen.

In einer zu Unrecht unterschätzten Rede an der John-Hopkins-Universität im September hatte US-Außenminister Anthony Blinken das Ende der unipolaren Weltordnung unter der Führung der USA eingestanden. Die USA sollten sich auf die Führungsrollen in den Bereichen Weltwährungssystem, der hohen See, dem Weltraum sowie in der IT-Technologie konzentrieren und in anderen Feldern ein Netzwerk von Kooperationen schaffen, um ihre Interessen bestmöglich durchzusetzen.

Grundziel müsse die Einhegung der Volksrepublik China sein. Blinken denkt dabei an regionale und internationale Systeme der Zusammenarbeit. Im Fokus wird demnach der pazifische Raum stehen, in dem Japan, Südkorea und Australien massiv aufgerüstet werden. Wie schon an der russischen Grenze werden die USA und ihre Alliierten Militärmanöver in den ost- und südchinesischen Gewässern durchführen. Es ist davon auszugehen, dass mit Indien und Vietnam zwei ökonomische Konkurrenten zu China aufgebaut werden. Neben Taiwan sind ein Konflikt zwischen Pakistan und Indien sowie Bürgerkriege in den zentralasiatischen Staaten und der Zerfall der Russischen Föderation mögliche Szenarien für regionale Konflikte, die China schwächen würden.

Auf der internationalen Ebene werden die USA insbesondere den Internationalen Währungsfonds nutzen, um das Monopol des US-Dollars sicherzustellen. Nachdem China einen erheblichen Einfluss auf die Welthandelsorganisation gewonnen hat, werden die USA darauf bedacht sein, die Kontrolle über die weltweiten Finanzströme zu behalten. Dafür müssen die USA schlussendlich die UNO stärken.

Diese Maßnahmen werden nicht dazu führen, dass der Bedeutungsverlust der USA aufgehalten wird. Dennoch ist die Blinken-Doktrin als Negation des Trump’schen Merkantilismus klug konstruiert: Ein Hyper-Multilateralismus mit der Folge einer zerklüfteten Weltordnung, in der die USA zwar nicht mehr global omnipotent, aber immer noch am stärksten wären.

Liebe Genossen, schlagen wir keine Türen zu; haben wir den Mut, unseren Verstand zu verwenden. Der Weggang von Sahra Wagenknecht ist ihrerseits eine falsche Entscheidung, deren Folgen nicht abzusehen sind. Das mag uns aber nicht davon abhalten, eigene Fehler seit 1989 zu benennen, zu kritisieren und deren Klärung einzufordern. Es ist an der Zeit, zu fragen, warum gute Junge und Alte teils systematisch aus der Partei gedrängt wurden. Es ist an der Zeit, zu fragen, warum die Eigentumsfrage immer noch nicht offensiv gestellt wird.

Die Liste ist lang. Jenen, die seit einer Weile hadern, muss bewusst sein: Wenn diese Partei stirbt, stirbt die KPF, stirbt Cuba Sí, verstummt eine Opposition gegen ein anmaßendes DDR-Geschichtsbild, und ja, Vernünftiges zum Frieden wird aus den BRD-Parlamenten verschwinden. Der vorpolitische Raum, den wir vernachlässigt haben, würde schlussendlich den Falschen überlassen werden.

Schlagen wir keine Türen zu! Für die, die jetzt gehen, muss die Tür offenstehen, um gesichtswahrend wiedereintreten zu können. Wiederholen wir keine historischen Fehler! Seien wir uns der Worte des Künstlers Thomas Brasch bewusst, der in einem Interview in Westdeutschland sagte:

»Der Faschismus ist in der Weltgeschichte so lange her wie eine Sekunde in meinem Leben. Und wenn die Deutschen meinen, diese eine Sekunde ist schon so lang gewesen, dass sie darüber nicht mehr nachdenken müssen, tun sie mir leid! – Es ist die Gegenwart nichts anderes als das Resultat der Vergangenheit.«

Vielen Dank!