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Der Bundestagswahlkampf und die Friedensfrage

Referat von Ellen Brombacher, Bundessprecherin

Seit Donnerstagmittag ist es de facto entschieden: Die Bundeswehr wird mit Tornadokampfflugzeugen am Krieg über Syrien teilnehmen, dort Tankflugzeuge einsetzen, Satellitenaufklärung betreiben und auch die Bundesmarine wird sich an dem Konflikt beteiligen. Darüber hinaus werden deutlich mehr deutsche Soldaten nach Mali und in den Irak geschickt werden. Die Zustimmung des Bundestages zu diesen Regierungsbeschlüssen gilt als sicher. Einzig DIE LINKE spricht sich gegen ein Engagement der Bundeswehr unter allen Umständen aus. So erklärte es Sahra am 26. November in der ARD, und Wolfgang Gehrcke, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, lehnte ein solches Vorgehen strikt ab, auch für den Fall, dass »die völkerrechtlichen Bedenken ausgeräumt werden könnten, was derzeit nicht der Fall ist«. Dieses klare politische Verhalten der LINKEN-Fraktionsspitze und vermutlich auch der Fraktion sowie unserer Parteivorsitzenden Katja und Bernd entspricht den in der Parteibasis fest verankerten Grundüberzeugungen und unserem Parteiprogramm. Dass das so bleibt, ist die wichtigste Verpflichtung unserer Partei gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern und darüber hinaus gegenüber allen Menschen in diesem Land, die Krieg als Mittel zur Lösung von Problemen ablehnen. Dass die Grünen hingegen Zustimmung zu den erwähnten Regierungsbeschlüssen signalisieren, versteht sich schon fast von selbst.

Am 18. September 2015 veranstaltete die Bundestagsfraktion der Grünen in Berlin einen Kongress unter dem Motto »Friedenspolitik in einer unfriedlichen Zeit« (Vgl. nd vom 19./20. September 2015, S. 7). Vertreter der Friedensbewegung suchte man in dem Programmheft vergeblich. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gab zu Beginn der Veranstaltung das Ziel aus, präventiv zu handeln. Aber auch militärische Einsätze schloss sie nicht aus. Der Völkermord in Srebrenica vor 20 Jahren habe gezeigt, so Göring-Eckardt, dass man sich auch durch ein Nichthandeln schuldig machen kann. Damit spielte sie auf das Konzept der sogenannten Schutzverantwortung an, bekannt als responsibility to protect. Demnach kann eine Intervention in einem Staat völkerrechtlich legitimiert sein, wenn dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Dieser Position folgten offenbar die anwesenden Diskutanten, darunter Wolfgang Ischinger, Chef der NATO-»Sicherheitskonferenz«.

Die Jungen und Jüngeren in unserer Partei und auch in der Kommunistischen Plattform wissen vielleicht oft nicht, dass dies nicht immer schon die Haltung der Grünen war. Diese Partei wurde vor knapp 36 Jahren gegründet. Ihre Mitglieder kamen im Wesentlichen aus der Antiatomkraft– und Umweltbewegung, aus den neuen sozialen Bewegungen, aus der sogenannten Neuen Linken und nicht zuletzt aus der Friedensbewegung. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass die Grünen seinerzeit und ein gutes eineinhalb Jahrzehnt lang eine pazifistische Partei waren. Nach dem Anschluss der DDR an die BRD – die Partei hieß inzwischen Bündnis 90/Die Grünen – scheiterte diese 1990 an der Fünf-Prozent-Hürde, zog aber 1994 wieder in den Bundestag ein. Von 1998 bis 2005 regierten dann die Grünen gemeinsam mit der SPD im Bund, und schon im Vorfeld des Zustandekommens der rot-grünen-Koalition unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer warfen die Grünen ihre friedenspolitischen Grundsätze über Bord. Stets aufs Neue zu diesem Thema geführte Debatten auch in unserer Partei lassen es sinnvoll erscheinen, sich diese Wende genauer anzusehen.

Am 31. Oktober 1995 schrieben die Grünen-Protagonisten Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer einen Offenen Brief an die Mitglieder ihrer Partei unter der Überschrift: »Wohin führt die Forderung nach einer militärischen Interventionspflicht gegen Völkermord?« Seinerzeit lehnten auch die vier Verfasser dieses Papiers Militäreinsätze noch konsequent ab. Joschka Fischer bereitete hingegen offen die Abkehr von den in der Partei geltenden friedenspolitischen Prinzipien vor. Es ist nach heutigen Erfahrungen mit grüner, bellizistischer Politik beinahe unglaublich, welch progressive Positionen Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer vor 20 Jahren vertraten. Damals noch die Mehrheitsmeinung in der grünen Partei. Auszüge aus dem erwähnten Offenen Brief sollen das belegen.

Interventionspflicht der UNO?

»Wir schreiben diesen Brief«, so die vier, »weil Joschka auf dem Bonner Perspektiven-Kongress, statt die Abgrenzung zu Rühe zu klären, in öffentlicher Rede und mit programmatischem Geltungsanspruch einen bemerkenswerten Schritt weiter gegangen ist. Er hat nicht nur die Interventionsforderung für Bosnien verteidigt, sondern eine allgemeine Interventionspflicht der UNO bei Völkermord gefordert. Da diese Formel für die Bundesversammlung in Bremen eine Rolle spielen wird, als Einfallstor für eine praktisch umfassende Befürwortung von Kampfeinsätzen, möchten wir vorab eine Klärung dazu in den Diskussionen der Kreisverbände anregen. Wir setzen uns deshalb in diesem Brief in Form von Rückfragen kritisch mit dem neuen Vorstoß auseinander.«

Und weiter schreiben Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer, die neue Formel ziele direkt auf Emotionalisierung. Wer könne schon etwas dagegen sagen, dass Völkermord verhindert werden müsse. Dann zitieren die vier aus Greifelds Rechtswörterbuch, nach internationalem und deutschem Recht begehe Völkermord, »wer in der Absicht, eine nationale, rassische oder religiöse oder Volkstumsgruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, vorsätzlich Mitglieder der Gruppe tötet, ihnen schweren körperlichen oder seelischen Schaden zufügt, sie durch Maßnahmen zur Beschränkung der Lebensbedingungen (Ernährung, Gesundheitsfürsorge) oder Geburtenkontrolle (Sterilisation u. dgl.) der physischen Vernichtung aussetzt oder ihre Kinder in eine andere Gruppe überführt.«

»Wenn jemand«, so kommentieren die vier, »aus dieser begrüßenswert weiten Definition die Pflicht der UNO zur militärischen Intervention ableitet, in wie viele Kriege wird er sich gleichzeitig verwickeln? … Kann es in den internationalen Beziehungen einen Verfolgungszwang geben? Wer ist der Staatsanwalt? Welche Instanz soll feststellen, dass ein kriegerisches Ereignis als Völkermord zu werten ist? Die Grünen«, so schlussfolgern die vier, » sind es mit Sicherheit nicht. Kann es die UNO-Vollversammlung sein – mit wie überzeugenden Mehrheiten? Faktisch werden es die sein, die auch den Sicherheitsrat dominieren, die führenden Mächte in NATO, Westeuropa und G-7. Soll es auf dieser Grundlage einen Interventionsmechanismus geben, der automatisch in Gang gesetzt wird?«

Und weiter stellen sie fest: »Führende NATO-Staaten haben bis zur Zahlungsverweigerung an die UNO alles getan, damit diese Organisation keine eigenen Erzwingungsmittel erhält. … Heißt die vage Vorstellung von der Interventionspflicht der UNO nun praktisch, dass, weil andere Verbände nicht zur Verfügung stehen, es letztlich die NATO ist, die im UNO-Auftrag weltweit intervenieren muss? Und wie soll verhindert werden, dass sich das Weisungsverhältnis praktisch umdreht und die NATO, deren Führungseliten weitgehend identisch mit denen der G-7-Staaten und des Sicherheitsrates sind, den ›westlichen‹ Eigeninteressen folgend, der UNO eine bestimmte Sicht der Dinge aufzwingt und diese zur Legitimationsinstanz der NATO degradiert?«

Liebe Genossinnen und Genossen, beinahe prophetisch klingen die folgenden Worte von Claudia Roth und ihren Mitkämpfern:

»Faktisch«, so stellen sie fest, »steuert die internationale Politik auf eine neue Blockkonfrontation zu – mit allen Folgen. Schlüsselfunktion hat dabei die NATO, die sich über angeblich humanitäre Aufträge neue Legitimation verschafft, mit ihrer Politik und ihren Absichten aber weit darüber hinausgeht. Wer jetzt die NATO, die sich als weltweite Schutzmacht aufzuspielen beginnt, über ihre angeblich humanitäre neue Funktion legitimiert, muss darlegen, wie er sich denn internationale Abrüstung und die Verminderung von Rüstungsproduktion und -export vorstellt. Wie eine neue Blocklogik verhindert werden soll. Wie man sich eine ökologisch-solidarische Weltwirtschaft vorstellen kann als Antwort auf die ungeregelte und chaotische Globalisierung, die die Dritte Welt tiefer ins Elend stürzt und den Aufstieg von Schwellenländern zum Vorwand der Bundesregierung für Deregulierung, Lohndrückerei und Sozialabbau macht. Steht die subtile Befürwortung der NATO, die hinter der – Interventionsforderung steht, im Zusammenhang mit dem weltwirtschaftlichen Selbstbehauptungsinteresse Westeuropas und Deutschlands, wie es Joschka in seinem von der Presse sogenannten Wirtschaftspapier beschreibt?«

Es ging schnell mit den jähen Wendungen

Inzwischen wurden diese damaligen Befürchtungen der vier ebenso Realität, wie ihre inzwischen uneingeschränkte Befürwortung sogenannter humanitärer Interventionen. Fischer setzte sich durch und die inzwischen gewendeten Grünen wurden Minister, Staatssekretäre oder Ähnliches. Und es ging schnell mit den jähen Wendungen. Doch kehren wir noch einmal zurück zu den besseren Zeiten von Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer.

Kompromisslos gehen sie in ihrem Offenen Brief mit der Rolle des US-Imperialismus um. Die USA, so lesen wir bei ihnen, bedienten sich bei der Verfolgung des nationalen Interesses fleißig der Wilsonschen Menschenrechtsrhetorik, um ihre eigentlichen Absichten zu verschleiern. Nachdem Roosevelt Menschenrechte bereits als Folie zur Politik der Einflusssphärensicherung genommen hätte, sei das Ganze noch mit Wilsons Idealen überwölbt worden, um so die amerikanischen Interventionen seit den zwanziger Jahren bis zum Militärputsch in Chile, der Invasion auf Grenada, dem Überfall auf Panama und der Blockade von Kuba zu legitimieren. Es sei im Vietnamkrieg weitergegangen, wo angeblich der freie Westen verteidigt worden wäre und habe bisher beim Wüstenkrieg am Golf geendet. Immer sei es angeblich um Menschen- und Freiheitsrechte gegangen. »Uns«, so resümieren sie dann, »interessiert die Frage, wie denn verhindert werden kann, dass ein grüner, auch militärisch ausgerichteter Menschenrechtsfundamentalismus als Mäntelchen für andere, reale Interessen genutzt wird.«

Und weiter wörtlich zitiert: »Zurzeit gibt es die öffentliche Auseinandersetzung darüber, ob die traditionelle Politik es schafft, den Antimilitaristen ein Ja zum Militär abzuzwingen oder ob die aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Kräfte stark genug sind, die historisch einmalige Chance für eine umfassende Abrüstung und Zivilisierung der internationalen Politik im Gespräch zu halten. Wer, wenn nicht wir, Bündnis 90/Die Grünen, kann und muss denn eigentlich in der offiziellen Politik noch die antimilitaristische und pazifistische Denktradition aufrechterhalten und in Handlungsoptionen umsetzen? Friedensforschung und institutionalisierte Friedensbewegung hätten keinen Ansprechpartner mehr, wenn nun auch wir der traditionellen Militärpolitik die Legitimation zusprechen würden.«

Weiter heißt es: »Der Unterschied des Interventions-Diskurses zum Mainstream der Außenpolitik in CDU, SPD und FDP wird immer undeutlicher. Eine gründliche Kurskorrektur, um mit der SPD koalitionsfähig zu werden, halten wir nicht für notwendig. Wir befürchten aber, dass die vage und allgemeine Forderung nach militärischen Interventionspflichten die militärische Kategorie zu einer ganz normalen Kategorie grüner Politik macht, wenn die aufgeworfenen Fragen nicht in einer Art und Weise beantwortet werden, dass der praktische Unterschied zur konservativen Politik deutlich wird. Wir bitten die AnhängerInnen der Interventionspflicht herzlich, möglichst bald nachvollziehbar zu klären, wohin für sie die Reise geht.«

Soweit, liebe Genossinnen und Genossen, die seinerzeit deutlichen Worte von heute klaren Befürwortern von Militäreinsätzen. Wie heißt es noch bei Engels in seiner Schrift zur Bauernfrage: »Wie leicht und angenehm es sich doch abwärtsrutscht, ist man erst einmal auf der schiefen Ebene!«

Joschka Fischer rutschte 1995 schon nicht mehr abwärts. Er war bereits unten angekommen; falls er denn je oben war. Auf den Offenen Brief der vier antwortete er prompt. Im November 1995 publizierte er eine »Öffentliche Antwort auf den Offenen Brief« mit dem Titel »Auf der Flucht vor der Wirklichkeit?« In dieser öffentlichen Antwort findet sich die unglaubliche, nicht vergessene Feststellung Fischers: »Ich habe diese Position der Interventionspflicht bei Völkermord – es ist dies für mich der unveräußerliche Kern des Antifaschismus und seines Vermächtnisses ›Nie wieder Auschwitz!‹ – schon immer vertreten.« Eine ähnliche Äußerung von ihm lautet: »Wir haben immer gesagt: ›Nie wieder Krieg!‹ Aber wir haben auch immer gesagt: ›Nie wieder Auschwitz!‹«

Man muss nur irgendwann die Staatsraison akzeptieren

Mit »Nie wieder Auschwitz« legitimieren zu wollen, dass Deutschland wieder Kriege führen darf, wozu 1999 – also nur etwa drei Jahre nach diesen unsäglichen Fischer-Äußerungen – bereits die von einer rot-grünen Bundesregierung zu verantwortende erneute Bombardierung Belgrads gehörte – das ist eine der demagogischen Spitzenleistungen des olivgrünen Provokateurs, der in seinen Putzgruppen-Zeiten schon mal dann und wann einen Polizisten verprügelt hatte. Er wurde dennoch Minister – man muss nur irgendwann die Staatsraison akzeptieren: insonderheit die aus der NATO und – wie wir gerade erleben – aus der EU-Mitgliedschaft resultierenden militärischen Beistandsverpflichtungen sowie die auf Basis von Kapitel VII der UN-Charta stattfindenden Militäreinsätze. Diese Kehrtwende von einem strikten Pazifismus hin zur kriegsbefürwortenden Partei geht nur mit unerträglicher Demagogie. Die liefert Fischer in seinem sechzehnseitigen Antwortschreiben vom November 1995. Auch daraus seien einige wenige Kernüberlegungen zitiert:

»[…] 3. Eine Politik, die Gewalt überwinden will«, so Fischer, »kann nicht auf Gewalt setzen. Gewaltfreiheit gehört daher zu diesen universalistischen Grundwerten der Linken. Andererseits werden wir den Opfern mörderischer Gewalt aus demselben Grund unsere Hilfe zum Überleben nicht versagen dürfen, und das heißt eben auch im äußersten Falle militärische Hilfe. Dies erzwingt ein weiterer linker Grundwert, die Solidarität. Aus diesem Widerspruch wird linke Politik niemals herauskommen, denn er ist ihr wesentlich und muss in jeder konkreten historischen Situation immer neu beantwortet werden. Eines allerdings war für die demokratische Linke immer klar: Wenn Hilfe zum Überleben notwendig und möglich ist, muss sie geleistet werden. Dann hat der Grundwert der Solidarität Vorrang. Links«, so Fischer weiter, »ist die Solidarität mit den Schwachen, den Wehrlosen, den Opfern. Wer diesen Grundwert aufgibt, gibt tatsächlich die Grundwerte einer universalistischen und internationalistischen Linken auf und landet schließlich beim Isolationismus.«

Isolationismus, welcher Art auch immer, will Fischer natürlich nicht. Er will in die Regierung, natürlich nur aus humanitären Erwägungen. Und so schreibt er drei Jahre vor den nächsten, 1998 stattfindenden Bundestagswahlen, ich zitiere: »… denn wenn die konservative Politik das Mandat der Mehrheit behält und in den kommenden Jahren die Weichen der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik stellen wird, dann werden wir zwar laut dagegen protestieren, aber wie bei der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren und bei der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in den Neunzigern werden wir dann letztendlich verlieren. Dies sollten wir verhindern.« Und direkt an Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer gewandt schreibt Fischer weiter: »Mit Ausnahme der Friedenserzwingung nach Kapitel 7 UN Charta könntet Ihr eigentlich, wenn Ihr Euch nur öffentlich und vor Euren Anhängern getrauen würdet, allen anderen Punkten ja zustimmen. Das sagt Ihr allerdings nur im trauten Gespräch. Öffentlich hingegen dröhnt laut Eure pazifistische Rhetorik wider den Verrat.« Und Fischer fasst diese Rhetorik zusammen: »Wir bleiben dabei: Bündnis 90/Die Grünen sind eine gewaltfreie und das heißt auch strikt antimilitaristische Partei, die den Einsatz von Militär strikt ablehnt.«

Regierungsbeteiligung läuft auf »Strategie des kalkulierten Umfalls« hinaus

Aber Fischer ist ein gewiefter Taktiker. Er kennt seine Pappenheimer und teilt ihnen mit: »Zu danken habe ich Euch für die Klarstellung, dass die gegenwärtige Kontroverse nichts mit einer möglichen Regierungsbeteiligung der Bündnisgrünen 1998 zu tun hat.« Besonders hebt Fischer die Feststellung der vier hervor, »Eine gründliche Kurskorrektur, um mit der SPD koalitionsfähig zu werden«, sei nicht notwendig. Dies sei uneingeschränkt richtig, konstatiert Fischer und bezieht sich des Weiteren auf die Frage Ludger Volmers in der taz vom 12./13. August 1995, wie in der Grünen Partei praktisch mit dem Problem umgegangen werden solle – und nun wörtlich Vollmer: »dass wir die NATO einerseits für historisch überholt halten«, aber selbst per Beschluss einer rot-grünen Koalition nicht abschaffen könnten und ein einseitiger Austritt aus verschiedenen Gründen nicht ratsam sei. Und Volmer weiter: »Hier zeichnen sich neue pragmatische Perspektiven auf der Basis der bestehenden Grundsätze ab. Mit Sicherheit wird die Außenpolitik kein Punkt sein, an dem eine rot-grüne Koalition in Bonn scheitern könnte. Das ist jetzt schon absehbar. Deshalb muss kein grünes Tabu gebrochen werden.« Und nun wieder Fischer: »Ganz aktuell lese ich im SPIEGEL … Ludgers letzte Äußerung zu diesem Thema, die ich ebenfalls sehr bemerkenswert finde.« Volmer im SPIEGEL: »Ich sehe keinen Ballast, den wir abwerfen müssten. Ich halte es für legitim, zunächst mal mit alternativen außenpolitischen Perspektiven in Koalitionsverhandlungen zu gehen. Dann sehen wir weiter.« Und nun wieder Fischer: »Völker hört die Signale, kann ich dazu nur sagen. ›Zunächst mal‹ und ›dann sehen wir weiter‹ klingt ja sehr hoffnungsvoll und entschlossen! Wie wäre es denn«, fragt Fischer höhnisch, »zur Abwechslung mal Eurerseits mit einer ›Aktion Klartext‹ für die Partei, liebe Leute. Wer die Position der SPD zur Außen- und Sicherheitspolitik kennt, ihr Bekenntnis zu Bundeswehr, Vaterlandsverteidigung, Rüstungsproduktion, NATO, Blauhelmen etc., der muss endlich einmal seinen eigenen linken Anhängern in unserer Partei sagen, dass dies im Ernstfall einer Regierungsbeteiligung Eurerseits auf eine ›Strategie des kalkulierten Umfalls‹ hinauslaufen wird und muss.«

Soweit aus dem vor 20 Jahren stattgefundenen Briefverkehr zwischen Fischer und den kalkulierten Umfallern. Zwei Jahre später, 1997, veröffentlichte Zbigniew Brzeziński sein strategisches Buch »Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft«. Brzezińskis Konzept wird umgesetzt. Wir haben das am Beispiel der Ukraine in den Mitteilungen vom April 2014 anhand von Zitaten aus dem eben erwähnten Buch eindeutig belegt. George Friedman, der Chef von Stratfor, hat auf einer Pressekonferenz im Februar dieses Jahres in brutaler Offenheit ebenfalls die Realisierung dieses Konzepts geschildert und wir sind darauf auf unserer Bundeskonferenz am 2. Mai ausführlich eingegangen. Die Welt ist in den vergangenen 20 Jahren um vieles unsicherer und gefährlicher geworden. Es ist hier nicht die Zeit, dies im Einzelnen zu belegen. Denken wir nur an die vergangenen zwei Wochen. Als Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer noch keine Umfaller waren, beendeten sie ihre Aufzählung US-amerikanischer Aggressionen mit dem im Januar 1991 begonnenen zweiten Golfkrieg. Schon mit Zustimmung der Grünen fand 1999 die nicht einmal vom UN-Sicherheitsrat legitimierte Aggression gegen Jugoslawien statt. Immerhin lagen zwischen dem 2. Golfkrieg und der Bombardierung Jugoslawiens noch acht Jahre. Nach dem Attentat auf das World Trade Center am 11. September 2001 folgten Kriege und militärische Konflikte Schlag auf Schlag. Es gehört heutzutage zur politischen Normalität, eben mal andere Länder zu bombardieren, Kommandoaktionen durchzuführen oder Drohnen zum Mord an politischen Gegnern einzusetzen. Die staatliche Souveränität gilt nur noch für die Staaten, deren militärische Stärke zur Abschreckung ausreicht. Ist das nicht der Fall, bombt nach Herzenslust, wem immer danach ist. Denken wir nur an das Morden der Saudis im bitterarmen Jemen. Mehr als 5.000 Menschen mussten dort bisher daran glauben. Es interessiert kaum jemanden.

Deutschland spielt in dieser Situation eine zwiespältige Rolle. Einerseits setzt es seine Position als stärkste Macht in der EU ziemlich rücksichtslos durch; denken wir nur an Griechenland. Und seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten ist die Maxime obsolet: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Andererseits ist die deutsche Außenpolitik vernunftorientierter als die manch anderer europäischer NATO-Staaten, von den USA ganz zu schweigen. So beteiligte sich die BRD, sieht man von indirekten Faktoren ab, nicht am Irak-Krieg. Gemeinsam mit Russland und China enthielt sich die BRD im UN-Sicherheitsrat der Stimme, als es um die Einrichtung einer sogenannten Flugverbotszone über Libyen ging, die den Ausgangspunkt dafür bildete, die Gaddafi-Regierung durch die totale Anarchie zu ersetzen. Und auch hinsichtlich des Ukraine Konfliktes setzte die BRD – nachdem sie freilich ihren Anteil an der Destabilisierung des Landes geleistet hatte – primär auf Verhandlungen. Das passt den Falken in den USA und der NATO nicht und den ihnen hörigen Medienvertretern deutscher Zunge ebenso wenig. Erinnert sei nur an das mediale Hetzfeuerwerk nach der Stimmenthaltung in der Libyenfrage.

Es ist heute nicht unsere Aufgabe, zu analysieren, welches die Hauptgründe dafür sind, dass die BRD sich der Rolle des totalen Vasallen der USA widersetzt. Nehmen wir die Tatsache, dass SPD-Minister Gabriel im Zusammenhang mit dem Abschuss des russischen Kampfjets äußerte, der Zwischenfall zeige, »dass wir einen Spieler dabeihaben«, der »unkalkulierbar« sei: »Das ist die Türkei und damit nicht die Russen«, so Gabriel wörtlich. Barack Obama hingegen unterstützte die Türkei. Bei der Bewertung solcher Differenzen bringt auch Moralisieren nicht weiter. Ein Grund für das Verhalten maßgeblicher Teile der BRD-Oberen wird sicherlich sein, dass sich bisher sechzig bis siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung dagegen aussprechen, Konflikte in der Welt militärisch zu lösen. Gegenwärtig bröckelt diese Position. Eine Woche nach den Terroranschlägen in Paris sprachen sich in Umfragen 42 Prozent für einen Einsatz der Bundeswehr in Syrien und 51 Prozent dagegen aus. Und – das sei hier miterwähnt: Mehr als 10 Prozent hätten, wären zu diesem Zeitpunkt Bundestagswahlen gewesen, die AfD gewählt. Da ist ein untrennbarer Zusammenhang: Die Terroranschläge werden genutzt, um Kriegsbereitschaft in der Bevölkerung zu erzeugen, und das »Verständnis« dafür, zukünftig die Bundeswehr auch im Innern einzusetzen. Und die faschistoide Rechte, sekundiert von einem Teil der Konservativen, von BILD, RTL und anderen Qualitätsmedien, instrumentalisiert diese Anschläge für jenen widerwärtigen und brandgefährlichen Rassismus, den wir alltäglich erleben – untrennbar verbunden mit völkischem Geschrei. Der Zusammenhang zwischen Militarismus und Rechtsentwicklung offenbart sich in fast klassischer Form.

Aber noch ist die Mehrheit der Bevölkerung für diese zutiefst reaktionären Tendenzen nicht zu haben. Dennoch gehen nicht einmal zehn Prozent für diese Haltung auf die Straße, und doch ist es ein nicht zu ignorierender Faktor, dass über die Hälfte der Menschen hierzulande keinen Krieg will. Denn diese Menschen sind auch Wähler. Wer aber artikuliert diesen Willen? In den Parlamenten jedenfalls nur eine Partei: DIE LINKE. Und für DIE LINKE gilt wortwörtlich, was die vier Grünen vor zwanzig Jahren, vor ihrem kalkulierten Umfallen, formuliert hatten. Es sei wiederholt: »Wer, wenn nicht wir, Bündnis 90/Die Grünen, kann und muss denn eigentlich in der offiziellen Politik noch die antimilitaristische und pazifistische Denktradition aufrechterhalten und in Handlungsoptionen umsetzen? Friedensforschung und institutionalisierte Friedensbewegung hätten keinen Ansprechpartner mehr, wenn nun auch wir der traditionellen Militärpolitik die Legitimation zusprechen würden.« Im Rahmen dieser zwei Sätze ist nur ein Austausch erforderlich: Bündnis 90/Die Grünen ist durch DIE LINKE zu ersetzen.

Damit DIE LINKE Friedenspartei bleibt und dieses entscheidende Charakteristikum nicht dem Bestreben mancher geopfert wird, 2017 in eine rot-rot-grüne Bundesregierung zu gelangen, gilt es, aus den Erfahrungen der Grünen zu lernen. Worum geht es da?

Aus den Erfahrungen der Grünen zu lernen, heißt, ihren Weg nicht zu gehen

1. Wenn in einer Partei Stimmen laut werden, die dafür plädieren, eine Regierungsbeteiligung im Bund anzustreben, so ist das identisch damit, billigend in Kauf zu nehmen, dass diese Partei ihre strikten Antikriegspositionen aufgibt. Niemand in dieser BRD ist koalitionsfähig, der Probleme mit der Staatsraison, also mit den Bündnisverpflichtungen in EU und NATO hat. DIE LINKE hat Probleme mit der Staatsraison, indem sie Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt und eine ebenso ablehnende Haltung zur NATO und den militärischen Strukturen der EU einnimmt. In dieser Frage kann es keine Kompromisse geben, wenn die Partei ihrer Verantwortung gerecht werden will. Somit sind manche Bemerkungen von Protagonisten der Partei, die auf eine Regierungsbeteiligung zielen, hochproblematisch. Erinnert sei stellvertretend an die Äußerungen Gregor Gysis auf dem Bielefelder Parteitag. Er sagte: »Es gibt bei uns viele, die eine Regierungsverantwortung anstreben, und es gibt solche, die sie nicht wollen. Letztere können das aber nicht zugeben und werden nur für sehr viele rote Haltelinien streiten, die man auf gar keinen Fall unterschreiten dürfe, in der Hoffnung, dass SPD und Grüne schon an der zweiten Haltelinie scheitern. Wir können und sollten auch auf Bundesebene regieren wollen, und zwar selbstbewusst, mit Kompromissen, aber ohne falsche Zugeständnisse.« Ist nach diesen Worten Gregor Gysis die Akzeptanz der bundesrepublikanischen Staatsraison ein zulässiger Kompromiss und demzufolge kein falsches Zugeständnis? Das hätte mit unserem Parteiprogramm nichts mehr zu tun. Die KPF hat nach Bielefeld klar formuliert: »Wir geben unumwunden zu, dass wir aus den genannten Gründen gegen eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene sind. Wir stehen nicht für die friedenspolitischen Grundsätze der LINKEN ein, weil wir damit eine Regierungsbeteiligung blockieren wollen, sondern wir wollen die Blockade, weil nur so die friedenspolitischen Grundsätze bewahrt werden können.« Wie notwendig diese Position ist, verdeutlicht auch eine Rezension von Michael Brie im ND vom 23. Oktober 2015. Der Autor Albrecht von Lucke befürchtet in seinem Buch »Die schwarze Republik und das Versagen der Linken«, dass DIE LINKE eine linke Regierungsbildung in Deutschland blockiert, und Michael Brie schreibt in diesem Zusammenhang: »Liest man das Buch gründlich, so wird eine ernsthafte strategische Frage aufgeworfen: Liefert DIE LINKE mit ihrer Absage an mögliche Einsätze der Bundeswehr – auch mit UN-Mandat und unter UN-Regie – nicht SPD und Grünen den Grund oder Anlass dafür, gar nicht erst nach einer linken Agenda zu suchen?« Brie weiter: »Wenn Tzipras mit seinem Vorstoß der Richtungsänderung der Politik der EU scheiterte, weil Schäuble und nicht Gysi Finanzminister der BRD ist, dann stellt sich die Frage schon, wie man SPD und Grüne ernsthaft unter Druck setzen kann, ihren Kurs zu verändern.« Es sei zu prüfen, so Michael Brie schlussfolgernd, »ob eine wirklich linke Regierung tatsächlich unmöglich ist«. Aber Brie geht es offensichtlich nicht nur für den Fall einer Regierungsbeteiligung um die Akzeptanz der bundesrepublikanischen Staatsraison. Er konstatiert: »Die Frage, ob tatsächlich die absolute und bedingungslose Verweigerung für Einsätze der Bundeswehr außerhalb der NATO in der Linkspartei Bestand haben sollte, steht ganz unabhängig von der Regierungsfrage.«

DIE LINKE sitzt nicht im UN-Sicherheitsrat

2. Es sei zu prüfen, so Brie, »ob eine wirklich linke Regierung tatsächlich unmöglich ist«. Wir stellen die Frage mit umgekehrtem Vorzeichen: Ist eine linke Bundesregierung tatsächlich möglich, mit dieser SPD und diesen Grünen? Wir sind überzeugt, eine solche Koalition würde alles Mögliche verkörpern, nur nichts Linkes. SPD und Grüne – folgte man Michael Brie – veränderten DIE LINKE und nicht sich selbst. Und genau diese Veränderungsrichtung machte uns überflüssig. Und noch etwas zu Bries Argumentationslinie. Wer Kriegseinätze ablehnt, so wirft er nicht nur uns faktisch vor, macht sich schuldig, dass es in Europa keinen linken Fortschritt geben wird. Wer Bundeswehreinsätze ablehnt, lässt einen wie Tsipras oder irgendwann einen wie Corbyn oder andere europäische Linke scheitern. Das hatten wir noch nicht. Man hat uns vorgehalten, dass wir unsere Partei behinderten, eine Partei des Völkerrechts zu sein, weil man es sich nicht aussuchen könne, welche Artikel der UN-Charta man akzeptiere und welche nicht. Es sei nicht akzeptabel, dass wir Artikel VII der Charta nicht vorbehaltlos unterstützten. Diese moralischen Druck ausübende Argumentation könnte glatt zu der Annahme verleiten, DIE LINKE säße im UN-Sicherheitsrat und würde sich den Abstimmungen entziehen. DIE LINKE hat aber nur über Auslandseinsätze der Bundeswehr im deutschen Parlament abzustimmen und ist gegen diese, ob mit oder ohne UN-Mandat. Wir sind nicht der UN-Charta verpflichtet, sondern dem Parteiprogramm. Dies hätte auch volle Gültigkeit, wenn der UN-Sicherheitsrat gemeinsame Maßnahmen nach Kapitel VII für Syrien beschließen würde. Die Tatsache, dass wir aus guten Gründen nach wie vor die Äquidistanz ablehnen, ist nicht gleichbedeutend damit, dass wir Bundeswehrauslandseinsätze befürworteten, wenn irgendwo Russland im Spiel ist.

Man hat uns in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorgehalten, besonders im Zusammenhang mit Ost-Timor und Ruanda, uns stünden irgendwelche abstrakten Prinzipien höher, als die Menschenrechte. Wir wissen, auf wessen Konto das Gros der weltweiten Menschenrechtsverletzungen geht und wir wissen vor allem, dass Kriege in unserer Zeit keine Menschenrechte bringen. Das beweisen nicht zuletzt Afghanistan, der Irak, Libyen, Syrien, der Jemen, Nigeria, Mali und andere Länder, die hier alle aufzuführen zu weit ginge. Und meist hatten USA und NATO von Anfang an die Hände mit im Spiel.

Aber dass wir jetzt auch noch dafür herhalten sollen, dass die Linken in Europa schwach sind, weil sie keine Perspektive hätten, und dies, weil unsere Partei sich unter dem bremsenden Einfluss der Verteidiger des Parteiprogramms befände, das ist der Gipfel. Soweit zu Michael Brie.

3. Wenn wir mit Auffassungen konfrontiert werden, wie Ludger Volmer sie 1995 äußerte, ist äußerste Vorsicht geboten. Mit Sicherheit, so formulierte er, würde die Außenpolitik kein Punkt sein, an dem eine Koalition im Bund scheitern könne, das sei jetzt schon absehbar. Deshalb müsse kein Tabu gebrochen werden. Und weiter schrieb er, auch das sei hier wiederholt, im SPIEGEL: »Ich sehe keinen Ballast, den wir abwerfen müssten. Ich halte es für legitim, zunächst mal mit alternativen außenpolitischen Perspektiven in Koalitionsverhandlungen zu gehen. Dann sehen wir weiter.« Wie wir inzwischen wissen, ist es keine Unterstellung, dem Autor dieser Zeilen zumindest so etwas wie Irreführung vorzuwerfen. Und wir wagen uns, heute zu sagen: Wenn jemand in unserer Partei – wie einst Ludger Volmer – im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 behauptete, dass man sich mit der SPD in außenpolitischen Fragen eher einigen könne, als in solchen der Umverteilung, dann wäre das im besten Falle Ausdruck naivster Illusionen, wahrscheinlicher aber Täuschung. Und es gibt in diese Richtung gehende Äußerungen in unserer Partei schon jetzt.

Entweder die friedenspolitischen Grundsätze werden bewahrt, oder man geht in die Regierung

4. Alle die NATO betreffenden Fragen sind im Kontext mit der Kehrtwende der Grünen von essentieller Bedeutung. Erinnern wir uns auch hier des geöffneten Türspalts bei Ludger Volmer, der in der taz vom 12./13. August 1995 die Frage stellt, »wie wir praktisch mit dem Problem umgehen, dass wir die NATO einerseits für historisch überholt halten, aber selbst per Beschluss einer rot-grünen Koalition nicht abschaffen können« und ein einseitiger Austritt aus verschiedenen Gründen nicht ratsam sei. Hier zeichneten sich neue pragmatische Perspektiven auf der Basis der bestehenden Grundsätze ab. Soweit Vollmer zu einer Zeit, da der eingangs zitierte Offene Brief der vier noch gar nicht geschrieben war. Vollmer, der spätere Staatsminister, ein trojanisches Pferd, der dann umso überzeugender umkippen konnte? Das werden wir kaum erfahren. Zurück zur NATO. Ist die Position zu diesem Pakt in unserer Partei unumstritten? Programmatisch schon. Aber in praxi? Erinnern wir uns an den Umgang mit dem Offenen Brief an Michael S. Gorbatschow auf dem Bielefelder Parteitag und schon in dessen Vorfeld. Die Quintessenz dieses Briefes besteht in der Ablehnung der Äquidistanz. Genau dafür wurde er auch kritisiert, so in einem Papier aus Baden Württemberg, in dem es heißt: »Dennoch gehört zu einer Analyse der Situation, dass NATO und Russland auch mit politischen und militärischen Mitteln um Macht und Einfluss in Osteuropa streiten und das wir beides gleichermaßen kritisieren.« Genau gegen dieses Gleichermaßen wandte sich der Brief an Gorbatschow. Die Hauptverantwortung für die gefährliche Lage in der Welt, geht aus dem Brief hervor, trägt die NATO mit den USA an der Spitze. Das gilt, denken wir an die Bombardements der russischen Luftwaffe in Syrien, dennoch weiterhin. Nicht Russland verantwortet die Destabilisierung ganzer Staaten im Nahen Osten und in Afrika. Doch weiter mit dem Brief an Gorbatschow, in dem es wörtlich heißt: »Bitte unterstützen Sie unsere Forderung, dass Schluss gemacht wird mit der Praxis der USA und der NATO, überall in der Welt, wo es das Kräfteverhältnis zulässt und es ihren imperialen Interessen entspricht, zu bomben, mittels Drohnen zu morden und Soldaten zu schicken. Es muss Schluss gemacht werden mit der Destabilisierung ganzer Staaten zum Zwecke ihrer besseren Beherrschung. Rechtliche Normen dürfen nicht länger durch willkürliche Interpretationen außer Kraft gesetzt werden.« Solche Formulierungen, da wären wir wieder beim Thema, sind nicht im Sinne der Staatsraison. Wohl deshalb sollte der Brief auf dem Bielefelder Parteitag nicht abgestimmt werden. Hätte eine Mehrheit der Delegierten für den Offenen Brief gestimmt, so hätten die Medien uns mit dem Vorwurf konfrontiert, DIE LINKE habe einen antiamerikanischen und dafür russlandversteherischen Beschluss gefasst, in dem NATO und EU in Misskredit gebracht werden. Natürlich ist eine Partei, die so etwas beschließt, weder politik- noch regierungsfähig. Andererseits wäre es schwer geworden, der Parteibasis eine Ablehnung des Offenen Briefes zu erklären. Denn – sieht man einmal davon ab, dass es Genossinnen und Genossen gab, die ein Problem mit dem Adressaten hatten – die im Brief formulierten Positionen entsprechen den Überzeugungen einer großen Mehrheit der Partei. Was also sollten die Gegner des Offenen Briefes tun? Sie drängten auf Nichtbehandlung und sie setzten sich durch, auch weil 35 Erstunterzeichner des Offenen Briefes diesen Kurs der Parteivorstandsmehrheit mit ermöglichten.

5. Immer dann, wenn davon die Rede ist, dass Menschenrechte gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen sind, müssen wir diejenigen sein, die nach den Interessen von Militäreinsätzen fragen. Das Argument, Kriege würden keine Menschenrechte bringen, sondern die Lage von Menschen immer noch weiter verschlechtern, ist im Großen und Ganzen richtig. Dennoch ein Einwand: Diese Argumentation unterstellt, dass diejenigen, die bomben und Soldaten schicken, dies aus humanitären Gründen tun, aber eine etwas naive Sicht auf die Ergebnisse ihres Wirkens hätten. Man muss niemandem zum Beispiel in der NATO Gutmenschentum unterstellen, sondern auf die möglichen strategischen Interessen schauen, die zu sogenannten humanitären Interventionen führen. Auch das sagten die vier in aller Offenheit und richtigerweise in ihrem Schreiben von 1995 an Joschka Fischer. Dass das auch für sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr galt, hatte weder etwas mit einer veränderten Situation, noch mit neuen Erkenntnissen zu tun, sondern lag einzig und allein in dem Wunsch begründet, im Bund mitzuregieren.

Wo Joschka Fischer Recht hat, hat er Recht

Fassen wir also zusammen: Die Geschichte der Grünen lehrt nicht zuletzt, dass es in puncto friedenspolitische Grundsätze keinen Mittelweg gibt. Entweder sie werden bewahrt oder man geht in die Regierung. Mehr noch: Schon die Orientierung auf einen auf Regierungsbeteiligung ausgerichteten Wahlkampf kann zu irreversiblen Schäden führen. Erinnert sei an die Wahlkämpfe der PDS 2002. Ein gutes Vierteljahr vor den damaligen Bundestagswahlen stellte Dietmar Bartsch, seinerzeit Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter, »für die Wahl von Gerhard Schröder zum Kanzler die Stimmen der PDS in Aussicht, falls SPD und Grüne nicht genügend Abgeordnete haben sollten. ›Die Mitwahl von Schröder würde es keinesfalls zum Nulltarif geben‹, kündigte Bartsch an. Das brachte die sicheren Schlagzeilen. Der Kanzler musste beteuern, dass er sich von der PDS nicht wählen lässt.« (Financial Times Deutschland, 9. Juli 2002, Seite 10)

Das Ergebnis dieser Wahlkampftaktiererei, die bei weitem nicht Dietmar Bartsch alleine zu verantworten hatte, ist den Älteren unter uns noch in Erinnerung. Wenn Menschen zwischen Surrogat und Original wählen sollen, dann entscheiden sie sich im Regelfall für letzteres. Gesine Lötzsch und Petra Pau saßen, bewundernswert aufrecht, bis 2005 alleine am Katzentisch im Deutschen Bundestag. Und wohl nur durch die sozialen Bewegungen gegen die Agenda 2010, die zur Gründung der WASG führten und dann zur Fusion zwischen PDS und WASG, konnte diese Schlappe noch einmal ausgeglichen werden. Diese sogenannte Wahlkampfstrategie lief übrigens, und da hatte die rot-grüne Koalition Belgrad schon bombardieren lassen, unter der Losung »Stoiber verhindern«. Das suggerierte die theoretische Chance auf einen Politikwechsel und brachte praktisch Hartz IV. Man sollte meinen, so eine Erfahrung würde lange nachwirken. Mitnichten. In Auswertung des Bielefelder Parteitages verkündete der Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn vor Basissprechern in Berlin: »Die Politik Merkels muss weg. Darauf müssen alle Kräfte konzentriert werden.« Da eher nicht davon auszugehen ist, dass DIE LINKE den zukünftigen Bundeskanzler stellt und auch die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass ein Grüner es werden wird, heißt das doch nichts anderes als: Wir wollen einen SPD-Kanzler. Ja – aber warum denn bloß? Warum personalisieren wir den Wahlkampf? Es geht um unsere Wahlziele und nicht darum, dass wir die SPD der CDU vorziehen. Kommen wir noch einmal auf den Briefwechsel Fischer versus die später umgefallenen vier zurück. »Wie wäre es denn zur Abwechslung mal Eurerseits mit einer ›Aktion Klartext‹ für die Partei, liebe Leute«, fragt er Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin und Ludger Volmer. Und weiter: »Wer die Position der SPD zur Außen- und Sicherheitspolitik kennt, ihr Bekenntnis zu Bundeswehr, Vaterlandsverteidigung, Rüstungsproduktion, NATO, Blauhelmen etc., der muss endlich einmal seinen eigenen linken Anhängern in unserer Partei sagen, dass dies im Ernstfall einer Regierungsbeteiligung Eurerseits auf eine ›Strategie des kalkulierten Umfalls‹ hinauslaufen wird und muss.« An der Richtigkeit dieser Aussage von Joschka Fischer hat sich nicht das Geringste geändert.

Wir möchten allerdings unserer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass eine »Strategie des kalkulierten Umfalls« mit unserer Partei nicht so ohne Weiteres zu machen sein wird. Es war ja schon in der grünen Partei nicht ganz leicht. Worauf basiert unsere Hoffnung, dass sich die Parteibasis der LINKEN nicht für die Zustimmung zu sog. humanitären Interventionen gewinnen lässt? Sie basiert nicht zuletzt auf der fünfundzwanzigjährigen Geschichte unserer Partei. 1996 scheiterte auf dem Magdeburger PDS-Parteitag der erste Versuch, die Partei auf das Prinzip der Einzelfallprüfung festzulegen, also die strikte Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr dadurch zu ersetzen, dass die PDS-Bundestagsfraktion ihr Stimmverhalten in jedem einzelnen Falle prüfen solle. In Münster scheiterte die Vorstandsmehrheit im Jahr 2000 mit der gleichen Absicht. 2003 wurde in Chemnitz ein neues Parteiprogramm angenommen. Auch hier setzten sich diejenigen durch, die das Prinzip der Einzelfallprüfung ablehnen. Gleiches geschah bei der Beschlussfassung über die programmatischen Eckpunkte im Rahmen der Fusion von WASG und PDS/Linkspartei zur Partei DIE LINKE. Und auch im Erfurter Programm von 2011 sind die in unserer Partei von Anbeginn geltenden friedenspolitischen Prinzipien durch die Delegiertenmehrheit bewahrt worden. Ein wesentlicher Grund für das in dieser Frage stabile Abstimmungsverhalten auf den genannten Parteitagen ist die Mehrheitsstimmung an der Parteibasis. Es ist die marxistische Bildung vieler Genossinnen und Genossen und zwar in West wie in Ost. Marxisten haben gelernt zu fragen, wie Kriege entstehen und in wessen Interesse sie geführt werden. Sie wissen, dass es um Profite geht und dass die mit Menschenrechten wenig bis gar nichts zu tun haben. Sie glauben nicht daran, dass man in Kriege schlafwandelt. Ein weiterer, nicht vom Vorhergesagten zu trennender Grund sind die Geschichtskenntnisse vieler Genossinnen und Genossen. Sie haben, um in Fischers Terminologie zu bleiben, den Umfall der deutschen Sozialdemokratie 1914 nicht vergessen. Sie sind bereit, die Fehler der deutschen Kommunisten aufzuzeigen, die diese vor dem Machtantritt der deutschen Faschisten begingen. Aber sie wissen auch um die Rolle der sozialdemokratischen Führer in der Novemberrevolution und der Weimarer Republik. Sie haben nicht vergessen, wer für die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts verantwortlich zeichnete. Sie haben auch den strikten, bis heute ungebrochenen Antikommunismus der SPD nach 1945 nicht vergessen und natürlich nicht deren Umfall in puncto Friedenspolitik schon im Zusammenhang mit der Gründung der Bundeswehr und dem Eintritt in die NATO. Mit anderen Worten: Zumindest die älteren, aber auch viele junge Mitglieder unserer Partei verbinden mit der SPD keine übermäßigen Illusionen. Und mit den Grünen schon gar nicht. Und noch etwas, auch wenn einige in unserer Partei das nicht gerne hören: Für die in der DDR Sozialisierten ist die Überzeugung, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, bis 1990 Staatsraison gewesen. So etwas prägt. Es dürfte also alles in allem schwer sein, Genossinnen und Genossen davon zu überzeugen, dass es gute Gründe gäbe, unsere friedenspolitischen Grundsätze über Bord zu werfen. Auf dieses Vertrauen in die Basis unserer Partei bauen wir.

Friedenskonferenz und Magdeburger Parteitag vorbereiten

Manchmal wird uns vorgeworfen, wir würden es mit der Friedensfrage übertreiben. Dieser Vorwurf kommt nicht nur von führenden Funktionären, die meinen, wir sähen Gespenster. Er kommt auch aus linken Strukturen. Da heißt es dann, wir würden eine Einpunktpolitik machen und alle anderen Fragen vernachlässigen. Das ist so nicht richtig beobachtet. Zum einen wird niemand in Zweifel ziehen, dass außer dem Marxistischen Forum, dem Geraer Dialog und uns kaum noch jemand in der LINKEN die Mehrheitsauffassung der Parteimitglieder – zumindest im Osten – zur Geschichte vertritt. Niemand kann bezweifeln, dass wir uns nachhaltig mit Problemen der Regierungsbeteiligung nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern auseinandersetzen. Wir beziehen über die Jahrzehnte klare Positionen in puncto Antifaschismus und Antirassismus und haben auch in den für die Partei so fragwürdigen Auseinandersetzungen in sogenannten Antisemitismus-Debatten klar Position bezogen. In anderen Debatten halten wir uns zurück, weil da die in der Partei verfolgte Linie sich weitgehend mit unseren Positionen deckt. Zum anderen lassen wir uns auch nicht in Diskussionen verwickeln, von denen wir meinen, dass hier Pappkameraden aufgebaut werden, um von den wesentlichen Feldern der Auseinandersetzung abzulenken. Mit anderen Worten: Unsere Arbeit beschränkt sich nicht auf die Verteidigung der friedenspolitischen Grundsätze unserer Partei. Nichtsdestotrotz halten wir das für die mit Abstand wichtigste Frage. Deshalb, dies sei abschließend zusammengefasst, konzentrieren wir uns in Vorbereitung der friedenspolitischen Konferenz am 19. März 2016, des Magdeburger Parteitages am 28. und 29. Mai 2016 sowie letztlich des Bundestagswahlkampfes 2017 vor allem auf folgende, nächste Aufgaben:

  • Auf der Grundlage unseres Parteiprogramms verfechten wir eine klare friedenspolitische Linie und bemühen uns um verlässliche Bündnisse innerhalb der LINKEN, aber auch über die Partei hinaus.
  • In Vorbereitung der Friedenskonferenz am 19. März 2016 haben wir eine eigene Stellungnahme erarbeitet und dem Parteivorstand zugesandt. Wir beteiligen uns aktiv an der Vorbereitung der Konferenz.
  • 2016 wird es ein Sonderheft der Mitteilungen zur Friedenspolitik geben.
  • Genossinnen und Genossen der KPF arbeiten aktiv in der Friedensbewegung mit, vor allem in Vorbereitung des Ostermarsches.

Weitere Schritte werden sich aus aktuellen Entwicklungen ergeben und im Bundeskoordinierungs- bzw. Bundessprecherrat der KPF diskutiert und beschlossen werden.