Von Selbstverleugnungen freimachen
Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel
Diskussionsbeitrag auf der Bundeskonferenz der KPF am 27. November 2021
Liebe Genossinnen und Genossen, im September 2020 erschütterte die brandenburgische Kleinstadt Forst ein politischer Skandal. Der LINKEN-Fraktionsvorsitzende des Stadtparlaments stimmte zusammen mit der AfD für den Bau eines Jugendklubs und stellte anschließend auf einer Pressekonferenz das Projekt mit seinem rechten Kompagnon vor. Die Antwort aus Potsdam kam prompt: Der Genosse wurde in Unehren ausgeschlossen.
Dieses Beispiel steht prototypisch für unsere politische Orientierungslosigkeit, die sich in den letzten Jahren gravierend verfestigt hat. Der Umgang mit der neuen Rechten ist zur Achillesferse der LINKEN geworden. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag institutionalisierte sich eine rechte Bewegung, die im Auftreten, in der Strategie und im Intellekt fundamental von den althergebrachten Nazis abwich. Die neue Rechte verstand es, durch Subversion Meinungshoheiten zu erringen. Zum Beispiel durch Kritik an einer einseitigen Presse, an der Europäischen Union oder durch die Verteidigung von Werten, Sitten und Brauchtum. Alain de Benoist, einer der Säulenheiligen der europäischen Rechten, rief bereits in den 1980er Jahren dazu auf, die vorpolitischen Räume zu erobern, um durch »kulturelle Macht« die subjektiven Voraussetzungen für eine politische Machtübernahme zu schaffen. Carl Schmitt, Ernst Jünger, Dominique Venner oder Michel Onfray haben die Adepten gelehrt, dass man nicht mehr von Rassenkrieg, sondern von Ethnopluralismus spricht; der Feind ist die Egalität statt des Kommunismus und – vielleicht am wichtigsten – »Ideen«-Offenheit steht vor ideologischer Borniertheit. Die Folge ist, dass die Hauptwerke der Neuen Rechten von Marx, Lenin, Luxemburg und Gramsci Anleihen nehmen.
Der Erfolg dieser Strategie beweist sich am besten in Frankreich. Marine Le Pen hat erneut gute Aussichten, ins Stechen der Präsidentschaftswahlen zu kommen. Sie stilisiert sich als Mutter der Nation, die jedem Franzosen mindestens einmal die Hand geschüttelt hat. Wir erleben die Wiedergeburt des Typus Jörg Haider – eines coriolanischen Volkstribunen.
Liebe Genossen, ungeachtet der aufgezeigten Faschisierungsgefahren, die wie Tentakel die bürgerliche Gesellschaft durchfurchen, bleibt die LINKE ungelenk am politischen Wegesrand und träumt von Regierungsbeteiligung. – Das reicht aber nicht im Kampf gegen die neuen Rechten. Es reicht nicht, dass wir die AfD als undemokratisch geißeln. Die LINKE hat sich einer marxistischen Analyse dieses auffällig in Europa aufkommenden Phänomens der Neuen Rechten nur selten bedient. Haben wir uns nie gewundert, welche Vermögenswerte diese jungen Parteien aufweisen; warum sie so gesponsert werden von Konzernen, deren Reichweite höchstens innerhalb der EU liegt? Wurde nur eine Minute darüber nachgedacht, dass die Rechte ein Ausdruck eines internen Klassenwiderspruchs des Kapitals sein könnte: Nämlich eines nationalgeprägten Kapitals gegen ein multinationales Kapital?
Liebe Genossen! Ich möchte nicht mein Unbehagen über die gegenwärtigen Protagonisten in dieser Partei und deren inhaltliche Ausrichtung verheimlichen. Ich bin mir aber darüber im Klaren, dass eine schlechte Linke immer besser ist als keine Linke. Zugleich entschuldigt das keinen Fatalismus: Unzulänglichkeiten dieser Partei dürfen falsche Entscheidungen niemals rechtfertigen.
In dieser Situation wird es notwendig, offen über unsere Parteigeschichte zu sprechen. Die Krise der LINKEN begründet sich in einer fehlenden Strategie, die sich auch aus einer widersprüchlichen und inkohärenten Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit ergibt. Diese Identitätslücke konnte nicht überzeugend durch einen linken Pluralismus gefüllt werden. Unsere Außenwahrnehmung ist diffus. Die Folgen des Antidogmatismus im Zusammenhang mit dem Sonderparteitag im Dezember 1989 haben nicht nur zur faktischen Negierung der sozialistischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert geführt, sondern auch die Aktualisierung der marxistischen Philosophie und damit einer systematischen Darstellung der sozio-ökonomischen Verhältnisse gehemmt. Die so notwendige marxistische Aufarbeitung der Niederlagen von 1989 und daraus zu ziehende Schlussfolgerungen sind immer noch rudimentär. Wenn die LINKE an Profil gewinnen möchte, muss sie sich von ihren Selbstverleugnungen freimachen. Es geht dabei nicht um Revolutionsromantik, um die Beschönigung schwerwiegender Irrtümer oder um Nostalgie. Es geht um klares, strukturelles Denken und Analysieren. Es geht darum, eine Partei zu werden, die begeistert, die aufklärt und die Möglichkeiten schafft.
Liebe Genossen, kommen wir auf die Stadt Forst und den linken Fraktionsvorsitzenden zurück. Die Causa Forst muss uns doch fragen lassen, ob wir das Alltägliche unterschätzt haben: Das Interesse an Menschen, an Biographien und Realitäten? Der Verlust von sozialer Infrastruktur heißt der Verlust von Sicherheit. Im ländlichen Raum sterben Innenstädte und Dorfkerne aus, der Breitensport verschwindet; von Kinos und Theater erst keine Rede. Der radikale Kapitalismus zeigt sein Gesicht in der totalen Kommerzialisierung. Oscar Wilde schrieb sinngemäß: Alles hat einen Preis, nichts hat einen Wert. Gerade der Wegfall an Werten, an Sitten und Gebräuchen wird heute ausschließlich von den Rechten bespielt.
Was tun? – Wer weiß das schon! Aber eins sollte klar sein: Wir brauchen keine rechten Substitute, wir brauchen keine Revision unseres Parteiprogrammes! Was wir brauchen, ist ein neues Vertrauen in unsere Fähigkeiten, eine Renaissance marxistischer Aufklärung!
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