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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Im Laufschritt mit dem Königstiger: Indiens Weg zum Hindustaat

Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel

 

Nach diesen Worten setzte sich Arjuna in der Schlacht in den Schoß des Wagens nieder, den Bogen samt den Pfeilen fallen lassend, mit von Kummer erregtem Herzen. (Bhagavad Gita, 1. Gesang, 47. Vers)

Der Journalist Peter Scholl-Latour stellte einmal fest, dass mit der Globalisierung eine Provinzialisierung in der Berichterstattung ausgelöst wurde. Entwicklungen in anderen Ländern werden punktuell verfolgt, ohne dass nationale Besonderheiten oder globale Zusammenhänge berücksichtigt werden. In aller Regel erfolgen Berichte über bestimmte Staaten einseitig und in schulmeisterlicher Manier über die aus westlicher Sicht nationalen Widrigkeiten.

Über andere Staaten wird dagegen wohlwollend rapportiert oder überhaupt nicht berichtet. Einer dieser Staaten, der von der veröffentlichten Meinung ausgespart wird, ist Indien. Obgleich Indien, mit der zweitgrößten Bevölkerung, eine der größten Nationen  dieser Welt ist, erfährt es nur ein Schattendasein im deutschen Journalismus. Dieser Beitrag wird ein Augenmerk auf die jüngsten Entwicklungen der indischen Politik legen.

In Anbetracht der großen Konfliktlinie zwischen den USA und China kommt Indien eine maßgebliche Rolle in der US-Eindämmungsstrategie gegen China zu. Indien befindet sich im Umbruch. Wirtschaftliches und militärisches Wachstum machen die Atommacht zu einem Hauptakteuer in einer polyzentrischen Welt. Dabei ist der Machtanspruch der indischen Politikelite absolut. 

Der indische Mussolini

Wer erinnert sich nicht an den friedliebenden Mahatma Gandhi, den charismatischen ersten Premierminister Jawaharlal Nehru oder an die willensstarke Indira Gandhi. Indien ist das Land des Indischen Nationalkongresses. Das änderte sich, als im Jahr 2014 die Bharatiya Janata Party (BJP) die Bundeswahlen gewann und Narendra Modi, ein Hindu aus Gujarat, Premierminister wurde. 

Modis Lebensweg ist bemerkenswert. Der Sohn eines Lebensmittelhändlers aus einer unteren Kaste, welcher sich der Zwangsehe widersetzte, wurde bereits mit 17 Jahren Rädelsführer der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS). [1] Die RSS ist der paramilitärische Arm der heutigen regierenden BJP. Dort praktizieren Uniformierte Yoga, meditieren zu sanskritischen Mantras, werden in Selbstverteidigung geschult und erhalten eine paramilitärische Ausbildung. Der ideologische Begründer dieser Bewegung ist Veer Savarkar, der von 1883 bis 1966 lebte. Einst im Widerstand gegen die britischen Kolonisatoren, richtete Savarkar später seinen Groll gegen die Muslime. Seiner Ansicht nach stellten die arabischen Feldzüge, welche im 8. Jahrhundert n.u.Z. begannen und im 16. Jahrhundert in der Mogulherrschaft mündeten, die erste Kolonisation Indiens dar. Die Hindutva ward aus der Taufe gehoben. Dieses ideologische Machwerk räumt lediglich Hindus, Buddhisten, Sikhs und Jainas eine Daseinsberechtigung in Indien ein. Demnach heißt es:

»Die Hindutva [hinduistische Vormacht] ist nicht nur ein Wort, sondern ein gemeinsames Schicksal, […] nicht nur eine Nation, sondern auch eine Rasse.« [2]    

Die Parallele zur Blut-und-Boden-Ideologie des deutschen Faschismus ist mit großer Wahrscheinlichkeit kein Zufall. [3] Die heutige Politik Indiens unter Modi ist von Savarkars Hindutva nicht nur beeinflusst; sie arbeitet an deren Verwirklichung.

Der reine Hindustaat

Das Schweigen des Westens ist laut, wenn es um die Menschenrechtslage in Indien geht. Stattdessen wird die größte Demokratie der Welt als letzter Hafen gegen die aufstrebenden »autoritären Regime« im asiatischen Raum propagiert. Kastenwesen, Slums und religiöser Hass werden durch die westlichen Lifestylethemen Yoga, ayurvedische Massagen und Veganismus verdrängt.

Mit dem Staatsbürgerschaftsänderungsgesetz (CAA) erhielt dieses unkritische Indienbild tiefe Risse. Im Sinne der Hindutva wurde im Jahr 2019 vom indischen Parlament beschlossen, dass illegalen Migranten die indische Staatsbürgerschaft verwehrt bleibt, wenn sie keine Hindus, Sikhs, Buddhisten, Jainas, Parsen oder Christen sind. [4] Dieses hatte gravierende Konsequenzen für die circa 2 Millionen Muslime, die im Bundesstaat Assam leben und nur einen Duldungsstatus besitzen. [5] Sie wurden über Nacht völkerrechtswidrig zu Staatenlosen.

Dieser hinduistisch gefärbte Chauvinismus nahm noch schlimmere Ausmaße an. Im Februar 2020 zogen marodierende Hindus brandschatzend durch den Nordosten Delhis. In diesem Teil der Stadt wohnen mehrheitlich Muslime. Innerhalb von drei Tagen eskalierte die Situation und entwickelte sich zu einem Pogrom, bei dem Muslime gejagt, getötet und aus der Stadt vertrieben wurden. [6] Übrig blieben Schutthaufen, entweihte Moscheen und massakrierte Überlebende. Die Minderheitenkommission Delhis stellte später fest, dass dieses Massaker geplant und systematisch durchgeführt wurde. Der internationale Aufschrei blieb aus. Selbst als bekannt wurde, dass die Polizei keinen Auftrag zum Eingreifen erhalten hatte und eine juristische Aufarbeitung faktisch nicht erfolgen würde. Der Innenminister und zugleich Modis rechte Hand, Amit Shah, verhinderte es, die Aufhetzer und Rädelsführer, welche u.a. aus der Regierungspartei BJP kamen, strafrechtlich zu verfolgen. [7] Die Kommission für internationale Religionsfreiheit, ein Beratungsorgan des US-Kongresses, wirft der indischen Regierung mittlerweile die Ermunterung und Duldung von »ungeheuren« Verletzungen gegen die Religionsfreiheiten vor und empfiehlt Sanktionen. [8] – Es ist abzuwarten, welche Maßnahmen der wertebasierte Westen gegen diese Politik einleiten wird.  

Das Land, wo Honig und Milch fließen       

Kaschmir ist die geographische Umschreibung einer Region im Himalaya, die sich über die Bruchzone zwischen indischer und eurasischer Kontinentalplatte erstreckt. Dieses Gebiet grenzt an unterschiedliche Konfliktherde: Im Nordwesten an Afghanistan, im Nordosten an Tibet und die uigurische, autonome Provinz Xinjiang; im Süden und Westen ist es »Puffer« zwischen Indien und Pakistan. [9] Dabei beherrscht Indien mit 45 Prozent (Pakistan 35 und China 20 Prozent) die größten Gebiete Kaschmirs, welche bis August 2019 als Kaschmir und Jammu ein indisches Autonomiegebiet bildeten. [10] In Kaschmir und Jammu leben mehrheitlich Muslime (68,3 Prozent) und lediglich 28,4 Prozent Hindus. [11]

Die mehrfach besondere Situation Kaschmirs musste aus Sicht Neu-Delhis korrigiert werden. In Artikel 370 der Verfassung Indiens wurden der Region Kaschmir und Jammu weitgehende Autonomierechte eingeräumt. Diese umfassten ein eigenes Parlament, eine Gesetzgebung und Flagge. Am 5. August 2019 erklärte der Premierminister Modi, dass die Autonomierechte Kaschmirs beendet seien. Als ersten Schritt blieb Modi seiner klerikalen Ideologie treu, indem er die Region Ladakh von Kaschmir und Jammu abtrennte. Damit erreichte Modi gleich zwei Ziele: Er schuf einen Staat für die tibetischen Buddhisten und schwächte gleichzeitig das mehrheitlich muslimisch geprägte Kern-Kaschmir. [12] Die aufkommenden Proteste in Kaschmir wurden mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Bis August 2020 [13] verwendeten reguläre und paramilitärische Einheiten Schrotmunitionen und schossen in politische Demonstrationen als auch in religiöse Prozessionen. [14] Berichte über extralegale Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Verschleppungen stehen im Raum. [15] Mit Aussetzung der Autonomierechte erlangte die BJP unbegrenzten Handlungsspielraum auf Kaschmir und Jammu. Zeitgleich eskalierte die Situation zwischen Pakistan und Indien. 

Die indisch-pakistanische Rivalität

In keiner Region der Welt findet die nukleare Aufrüstung in einem derartigen Tempo statt wie im indopazifischen Raum. Es wird damit gerechnet, dass bis zum Jahr 2025 die Anzahl von indisch-pakistanischen Atomsprengköpfen auf 400 bis 500 Stück angewachsen sein wird. [16] Mit dem Kaschmirkonflikt hat sich die Situation drastisch verschlechtert. Die Stationierung von mehreren 10.000 Soldaten [17] geht mit der Neuausrichtung der indischen Nuklearstrategie einher: Könnten die 150 Atomsprengköpfe [18] für einen Erstschlag verwenden werden? [19]

In einer aufsehenerregenden Studie von führenden US-Umwelt- und Militärwissenschaftlern wird die Gefahr einer nuklearen Konfrontation zwischen Indien und Pakistan mit ihren Folgen für Menschen und Umwelt skizziert. [20] Das Szenario beschreibt die Bombardierung pakistanischer Großstädte und den Gegenschlag auf Indien. In einem solchen Fall würden innerhalb kürzester Zeit zwischen 50 bis 125 Millionen Menschen getötet werden. Mit dem Einsatz von Nuklearwaffen würde das Weltklima um 2° bis 5°C absinken – mit apokalyptischen Ausmaßen. Die Gefahr eines solchen Krieges brächte unkontrollierbare Folgen mit sich.

Indiens Weg

Die großen militärischen Konflikte des 21. Jahrhunderts, wenn sie nicht verhindert werden, werden sehr wahrscheinlich im indo-pazifischen Raum stattfinden. Es liegt in den Händen von Indien und China, mögliche Eskalationen zu verhindern. Das hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit Indien seine Unabhängigkeit von den USA bewahren kann. Gegenwärtig sind die Entwicklungen sehr beunruhigend. Das heutige Indien hat nichts mehr mit der Gandhi-Ära zu tun. Sinnbildhaft steht hierfür die Wahl von Pragya Thakur als Kandidatin der BJP für das Bundesparlament. Die frühere Hindu-Terroristin hausierte im Wahlkampf mit ihrer Vergangenheit. Der Weg in ein klerikal-faschistoides Regime ist geebnet.  

Anmerkungen:

[1]  Nationale indische Wahlbehörde, Narendra Modi Biography, abrufbar: www.elections.in/political-leaders/narendra-modi.html [21.3.2021].

[2]  Savarkar, Hindutva, S. 84-85. [Übers. vom Autor].

[3]  Chatterji, The Militarized Zone, in: Ali et. al., Kashmir, S. 93-124, S. 97.

[4]  BBC News, Citizenship Amendment Bill: India's new ›anti-Muslim‹ law explained, 11.12.2019, abrufbar: www.bbc.com/news/world-asia-india-50670393 [21.3.2021].

[5]  Livni, Nearly 2 million people in India have just been rendered stateless by a bureaucratic act, Quartz, 31.9.2019, abrufbar: qz.com/1699761/indias-national-register-of-citizens-makes-nearly-2-million-stateless/ [20.3.2021].

[6]  Khamdar, What Happened in Delhi Was a Pogrom, The Atlantic, 28.2.2020, abrufbar unter: www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/02/what-happened-delhi-was-pogrom/607198/ [19.3.2021].

[7]  Khan/Chakrabarty, Why the 2020 violence in Delhi was a pogrom, Aljazeera, 24.2.2021, abrufbar unter: www.aljazeera.com/opinions/2021/2/24/why-the-2020-violence-in-delhi-was-a-pogrom [19.3.2021].

[8]  Perkins et. al., United States Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2020, S. 20-24, S. 20-21.

[9]  Britannica online, Kashmir, Introduction, abrufbar: www.britannica.com/place/Kashmir-region-Indian-subcontinent [20.3.2021].

[10]  Bukhari/Parveen, China’s Approach Towards Kashmir Conflict: A Viable Solution, JPRSS, Vol. 1 No. 1, 1.7.2014, S. 14-30, S. 14.

[11]  Indische Zensusbehörde, Jammu and Kashmir Religion Census 2011, abrufbar unter: www.census2011.co.in/data/religion/state/1-jammu-and-kashmir.html [21.3.2021].

[12]  Vgl. Mehta, Winning Kashmir and Losing India, Foreign Affairs, 20.9.2019, abrufbar: www.foreignaffairs.com/articles/asia/2019-09-20/winning-kashmir-and-losing-india [20.3.2021].

[13]  Human Rights Watch, India: Stop Using Pellet-Firing Shotguns in Kashmir, 4.9.2020, abrufbar: www.hrw.org/news/2020/09/04/india-stop-using-pellet-firing-shotguns-kashmir [20.3.2021].

[14]  Vgl. Zargar, ›Eyes damaged‹: Pellet firing during Muharram in Srinagar leaves a trail of injuries, 1.9.2020, abrufbar: scroll.in/article/971885/eyes-damaged-pellet-firing-during-muharram-in-srinagar-leaves-a-trail-of-injuries [20.3.2021].

[15]  Human Rights Watch, India: New Reports of Extrajudicial Killings in Kashmir, 14.9.2020, abrufbar: www.hrw.org/news/2020/08/14/india-new-reports-extrajudicial-killings-kashmir [20.3.2021].

[16]  Toon et.al, Rapidly expanding nuclear arsenals in Pakistan and India portend regional and global catastrophe, Science Advances, Vol. 5 (10), abrufbar: advances.sciencemag.org/content/5/10/eaay5478/tab-pdf, S. 1.

[17]  Council on Foreign Relations, Global Conflict Tracker, Conflict between India and Pakistan, 19.3.2021, abrufbar: www.cfr.org/global-conflict-tracker/conflict/conflict-between-india-and-pakistan [21.3.2021].

[18]  Center for Arms Control and Non-Proliferation, Fact Sheet: India’s Nuclear Inventory, 29.8.2019, abrufbar: armscontrolcenter.org/indias-nuclear-capabilities/ [21.3.2021].

[19]  Stowe-Thurston, Added Ambiguity Over India’s No First Use Policy is Cause for Concern, Center for Arms Control and Non-Proliferation, 22.8.2019, abrufbar: armscontrolcenter.org/why-india-and-pakistan-should-both-have-no-first-use-policies/ [21.3.2021].

[20]  Ibidem.

 

Mehr von Moritz Hieronymi in den »Mitteilungen«: 

2021-03: Friedensdystopien

2021-01: Der wahre Sohn Afrikas

2020-10: Außenpolitische Vakua und die Friedensfrage