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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

30 Kerzen zum Einheitstag?

Günter Herlt, Berlin

 

Auch Du, Genosse, wurdest 1990, wie man sagt, befreit. Die Genossinnen ebenso, aber noch schmerzlicher. Doch beiderlei Mitstreiter hatten das nicht verschuldet. Die Mehrzahl aller Demonstranten im Herbst 1989 wollten keinen Regimewechsel, sondern einen besseren, stärkeren und einladenden Sozialismus! Eben deshalb steht bis heute der Anteil der zwei Millionen SED-Mitglieder am friedlichen Ablauf der Übernahme und Enteignung in keiner Lobrede der Vorreiter oder Lenker aus Bonn, Berlin und Leipzig. Auch die Kanzlerin aus der Uckermark ehrt ausgiebig die auswärtigen Helfer in Prag und Budapest, Warschau und Moskau und vor allem in Washington. Das ist Selbstentlarvung!

Nach 30 Jahren (vergleichbar mit 6 Fünfjahrplänen!) muss sich keiner von uns für Kohls »blühende Landschaften« bedanken. Uns wurde nichts geschenkt, aber sehr viel »ent-wendet«. Die »Treuhand« als Krake mit gierigen Saugnäpfen, übernahm 8.000 Betriebe und Kombinate mit  4 Millionen Werktätigen, aber ließ nur 1,2 Millionen weiterarbeiten, zumeist beim Abriss. Aller Gewinn vom »Schlussverkauf« kam in die Hände der Alteigentümer, Neureichen und Spekulanten. Der Anteil der Ostdeutschen blieb bei 5 Prozent. Fast alle Versprechungen der neuen Obrigkeit blieben Schall und Rauch durch die unfairen Verträge. Deren Rechtsstaat hat eine Armee von geschulten Anwälten und Meinungsmachern zur Manipulation der Gedanken und Gefühle. Wenn wir nur halb so geknechtet und verarmt gewesen wären, bräuchten sie nicht

70 Jahre Trommelfeuer zur Abwertung der DDR.

Wer heute nüchtern Gewinne und Verluste in Ost und West vergleicht, kann nicht beim Flugpreis nach Mallorca beginnen. Eher beim grünen SVK-Ausweis für alle Berufsgruppen und Krankheiten. Auch nicht bei der Anzahl der Neubauten. Die Büro- und Geschäftshäuser melden Leerstand. Der Wohnungsmarkt beklagt blanken Notstand. Den Frauen wurde mit Paragraphen aus der Kaiserzeit vieles genommen: von den Vollzeitstellen bis zum Ehekredit, vom Frauen-Ruheraum bis zur Betriebs-KITA, vom Schwangerschaftsabbruch bis zum Förderplan. Dafür gab es dann Horoskope in der Boulevardpresse und bessere Büstenhalter. Die Jugend musste wieder betteln – nicht um Jeans, aber um Ausbildungsplätze und Zukunftssicherheit. Jede Familie in den Landkreisen kann das ergänzen mit Kaffeefahrten statt Einkaufsläden, TV-Arztserien statt Land-Ambulatorien oder Gemeindeschwestern.

Die heutige Wirtschaft des Ostens hinkt 25 Prozent hinter der des Westens. Dabei arbeiten wir länger und verdienen weniger. Jeder dritte Arbeitnehmer hat Niedriglohn. In Ost und West verschlimmern sich Kinderarmut und Altersarmut. Drum wird mehr gemault als gejubelt.

Keiner im Osten wartet auf Geschenke, aber auf Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich und Mitsprache. Es gibt aber keine Mitsprache ohne Mitbesitz. Doch die Chefsessel sind zu 95 Prozent von Besserwessis besetzt.

Darum gibt es nun eine spürbare Rückbesinnung der Enttäuschten, der Enteigneten und Unerwähnten. Das erklärt die Schwindsucht der Wähler für die Regierungsparteien und den Siegeszug der Nationalpopulisten. Und doch formieren sich neue Mehrheiten links von der Mitte! Auch quer durch Europa. Das lässt viele fragen:

»Was ist hier und heute LINKS?«

1. Was Frieden sichert ohne die neue Hochrüstung und alten Größenwahn.

2. Was die Privatisierung öffentlicher Güter und Daseinshilfen beendet.

3. Was keine Vertiefung der Gräben zwischen Arm und Reich fördert. 

Wir müssen die egoistische Gier der Konzerne und Hochfinanz drosseln, weil sonst weder die Erde noch die Menschheit zu retten sind.

Unsere Politik ergibt sich nicht aus der Revolutionstheorie von 1917. Wir müssen ständig prüfen: wie sind die heutigen sozial-ökonomischen, parteipolitischen und machtpolitischen Verhältnisse?

Kraftquell der Linken sind die gesellschaftlichen Bewegungen an der Basis. Je breiter unsere Bündnisse, umso größer die Chancen zur Veränderung. Aber ohne Hektik und Naivität! Wer diese Gesellschaft verändern will, muss sich in sie reinknien. Wer darin versackt oder aufsteigt, muss viel Dreck schlucken können. Der braucht Rückgrat und Stütze. Misstrauen und Neid machen uns kleiner. Die Zahl der Systemkritiker wächst. Wir kennen zweierlei Strukturen mit ihren Vor- und Nachteilen. Weil wir lernfähig sind, können wir Navigationshelfer sein. »Orientieren« das heißt wörtlich: Den Osten suchen. Da geht noch immer die Sonne auf. Die ist Gelb wie China. Wer Speerspitzen an die russische Grenze stellt, ist blind!

Wer feiern will, sollte statt 30 vielleicht drei Kerzen ins Fenster stellen:

  • Für alle denkmalgeschützten Bauten und Orte der einstigen DDR.
  • Im Gedenken an die Zeit, als wir noch ohne Psycho-Pillen fröhlich waren.
  • In Erinnerung an jene Jahre, als uns kein Nachbarland fürchten musste, weil wir gelernt hatten, das WIR über das ICH zu stellen im Dienst am Gemeinwohl. Deshalb gingen wir auch mit Einkaufsbeutel zum Markt.          

 

Mehr von Günter Herlt in den »Mitteilungen«: 

2019-09: Es glich einer »Zangengeburt«

2019-04: Notizen zur Lage

2018-05: »Ein Riese an Denkkraft …«