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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Verlorene Leute

Maxim Gorki (1868-1936)

Dieser Erfolg, wie noch so mancher andere, machte den Schulmeister in der Gasse ungemein populär. Er schrieb Gesuche, erteilte Ratschläge, brachte Notizen in die Zeitung. So hatten einmal die Gäste Wawilows die Beobachtung gemacht, daß die Heringe und sonstigen Speisen in ihrer Stammkneipe eine keineswegs einwandfreie Beschaffenheit hatten. Schon zwei Tage später stand Wawilow, mit einem Zeitungsblatt in der Hand, hinter dem Büfett und tat öffentlich Buße:

»Die Sache ist richtig, weiter kann ich nichts sagen. Die Heringe hatten schon ’nen Stich, wie ich sie kaufte, und der Kohl – na, ich will’s zugeben, er ist schon ’n bißchen muffig. Fortwerfen will man’s nicht ... Ihr wißt ja, jeder will so viel Fünfer wie möglich zusammenkratzen. Nu sind wir ’reingefallen, grade umgekehrt ist’s gekommen: ich hab’ Schlimmes im Schilde geführt, und irgendein gescheiter Mensch hat mich um meiner Habgier willen der Schande preisgegeben! ...«

Dieses Schuldbekenntnis machte auf das Publikum einen sehr guten Eindruck und gab Wawilow Gelegenheit, seine Heringe und seinen Kohl bis auf den letzten Rest an den Mann zu bringen. Das Publikum verzehrte das verdorbene Zeug, ohne weiter darauf zu achten, wobei ihm der gewonnene Eindruck gewissermaßen als Würze diente.

Dieser bemerkenswerte Vorfall erhöhte nicht nur das Prestige des Schulmeisters ganz bedeutend, sondern gab auch den Einwohnern der Gasse eine Vorstellung von der Macht des gedruckten Wortes. (S. 139/140)

Neben der Zeitungslektüre, den Gesprächen und Prügeleien war auch das Kartenspiel ein beliebter Zeitvertreib. Martjanow durfte nie mitspielen, da es ihm ganz unmöglich war, ehrlich zu spielen, was er, nachdem man ihn ein paarmal beim Falschspiel erwischt hatte, ganz offen zugab.

»Ich kann ’mal das Mogeln nicht lassen,« meinte er, »das ist ’ne alte Gewohnheit von mir ...«

»Will ich gern glauben«, sekundierte ihm Taras, der Diakon. »Es gibt solche Gewohnheiten. So hatte ich mich dran gewöhnt, meine Frau Diakonin jedesmal des Sonntags nach der Liturgie durchzuprügeln, und wie sie mir dann gestorben war, befiel mich an jedem Sonntag eine solche Sehnsucht, ihr glaubt’s gar nicht. Den ersten und zweiten Sonntag ertrug ich’s, so gut es ging. Am dritten versetzt’ ich meiner Köchin eins, was sie natürlich sehr übel nahm. ›Beim Friedensrichter‹, sagte sie, ›will ich’s anzeigen!‹ Stellt euch meine Lage vor! Am vierten Sonntag vertobakte ich sie ganz gehörig; wie wenn sie mein richtiges Ehegesponst wäre; und bezahlte ihr dafür zehn Rubel. Und bei dieser Ordnung der Dinge verblieben wir dann – bis  ich mich wieder verheiratete ...«

»Du lügst, Diakon«, fiel ihm der »Angeknabberte« ins Wort. »Wieso durftest du denn zum zweitenmal heiraten?«

»Wieso? Na, so ... sie war eigentlich nur meine Wirtschafterin ...«

»Hatten Sie Kinder ?« fragte ihn der Lehrer.

»Fünf Stück. Ein Sohn ist ertrunken ... Der älteste war’s, ein gar spaßiger Junge ... Zwei sind an der Diphtherie gestorben ... Eine Tochter hat ’nen Studenten geheiratet und ist ihm nach Sibirien, ins Exil, gefolgt. Die fünfte wollte studieren und ist in Petersburg gestorben ... an der Schwindsucht, hieß es. Ja ... fünf Stück! Wir Herren von der Geistlichkeit sind ein fruchtbares Volk ...« (S. 134/135)

Maxim Gorki starb vor 85 Jahren, am 18. Juni 1936, bei Moskau.

Aus: Verlorene Leute (Бывшие люди) (1897), auch: Gewesene Leute. Quelle: Maxim Gorki, Verlorene Leute und andere Erzählungen. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 2, Berlin, Malik-Verlag, 1926.