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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Geist der Fremdenpolizei

Ulla Jelpke, MdB

 

Das vor zehn Jahren verabschiedete Zuwanderungsgesetz war von Anfang an ein Etikettenschwindel.

Es sollte der krönende Abschluss der ersten SPD/Grünen-Regierung im Bund werden: vor zehn Jahren, am 20. März 2002, verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen von SPD und Grünen das Zuwanderungsgesetz. Das "von Grundsätzen polizeilicher Gefahrenabwehr bestimmte Ausländerrecht wird durch ein Aufenthaltsrecht ersetzt, das sich an den Aufenthaltszwecken und den Bedürfnissen der Menschen orientiert", wie ein SPD-Redner in der abschließenden Bundestagsdebatte betonte. Die Integration sollte verbessert, eine an deutschen Interessen orientierte und gesteuerte Arbeitsmigration und ein verbessertes Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge geschaffen werden.

Die weitere Geschichte dieses ersten Versuchs, das Aufenthaltsrecht neu zu regeln, war eine Farce. Durch das schlechte Timing der SPD/Grünen-Koalition in den heraufziehenden Bundestagwahlkampf 2002 geraten, stand das Gesetz am 22. März im Bundesrat zur Abstimmung. Dort wurde es zwar verabschiedet, jedoch nur durch die abenteuerliche Konstruktion eines "Stimmen-Splittings" der SPD/CDU-Koalition in Brandenburg – das Verfassungsgericht hob das Gesetz schließlich wieder auf. SPD und Grüne verabschiedeten nach ihrer Wiederwahl im September 2002 das Gesetz umgehend wortgleich noch einmal im Bundestag. Der nach mehreren Landtagswahlen nun klar CDU-dominierte Bundesrat stoppte das Gesetz diesmal mit eindeutiger Mehrheit, der Vermittlungsausschuss wurde angerufen und nach über einem Jahr Verhandlungen zwischen Bundestag und Bundesrat konnte das Gesetz "zur Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung" schließlich im Juli 2004 verabschiedet werden. Es trat am 1. Januar 2005 in Kraft.

Der Rot-Grüne Mythos der "neuen Zuwanderungspolitik"

Ende der 90er Jahre war Bewegung in die migrations- und integrationspolitische Debatte in der Bundesrepublik gekommen. Vermeintlicher Fachkräftemangel und der auch gegen das Rentensystem in Stellung gebrachte "demografische Wandel" führten allenthalben zu Forderungen nach Aufhebung des Anwerbestopps, der 1973 die Einwanderung weiterer "Gastarbeiter" beenden sollte. Die Debatte um die notwendige Neuordnung der Migrationspolitik spitzte sich an einer Änderung der "Anwerbestoppausnahmeverordnung" der Bundesregierung zu, die am 1. August 2000 in Kraft trat. Mit dieser so genannten "deutschen green card"-Regelung sollten bis zu 20.000 ausländische Fachkräfte für Informationstechnologie angeworben werden können. Nach Ansicht der Koalition von SPD und Grünen sollten solche "Ausnahmeverordnungen" der Vergangenheit angehören. Ein neues Zuwanderungsrecht sollte ein System vorsehen, in dem nach jährlich festgelegten Quoten dringend benötigte Fachkräfte zum deutschen Arbeitsmarkt zugelassen werden sollten. Dazu hatte die "Unabhängige Kommission Zuwanderung" unter Vorsitz von Rita Süssmuth (deshalb "Süssmuth-Kommission") Vorschläge unterbreitet, die von der Bundesregierung im Grundsatz begrüßt, jedoch nur in Teilen für das eigene Gesetzesvorhaben übernommen wurden.

Die Reaktion der CDU auf die Debatte um Zuwanderung folgte prompt. Jürgen Rüttgers ließ im Landtagswahlkampf im März 2000 in Nordrhein-Westfalen breitflächig "Kinder statt Inder" plakatieren. Er setzte dabei auf eine auch unter sozialdemokratischen Wählern verbreitete Stimmung: warum die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte zulassen, wenn es gleichzeitig in Deutschland über vier Millionen Arbeitslose gibt und die Unternehmen in Deutschland kaum ausbilden? Jürgen Rüttgers Wahlkampf scheiterte zwar, machte aber klar, dass die CDU willens war, gegen eine Neuordnung des Zuwanderungsrechts die Stammtische mobil zu machen.

Der erste Entwurf des Zuwanderungsgesetzes war vor dem Hintergrund dieser Stimmung keineswegs so mutig wie insbesondere B'90/Grüne bis heute glauben machen wollen. Eine Rechtsgrundlage für Zuwanderungsquoten war zwar vorgesehen, für deren jährliche Festlegung im Verordnungswege hätte die Bundesregierung aber immer um Mehrheiten im Bundesrat ringen müssen. Die vermeintliche Vereinfachung des Aufenthaltsrechts durch nur noch zwei Aufenthaltstitel (Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnis) wurde mit einem neuen Wust unterschiedlicher Rechtsgrundlagen, Aufenthaltszwecke und Verfahren konterkariert. Die damalige "Ausländerbeauftragte" der Bundesregierung Marieluise Beck (B'90/Die Grünen) und Innenminister Otto Schily (SPD) bemühten sich in den Debatten des Bundestags redlich, die Befürchtung zu zerstreuen, dass es künftig überhaupt mehr Zuwanderung geben könnte.

Der erste rot-grüne Gesetzentwurf sah aber auch ohne die späteren Kompromisse an die CDU bzw. den Bundesrat bereits Verschlechterungen für hier lebende "Ausländer" vor, insbesondere für Flüchtlinge. Der Familiennachzug von Kindern zu ihren Eltern in Deutschland wurde erschwert. Die sozialrechtliche Schlechterstellung von Asylsuchenden sollte auf weitere Gruppen (Bürgerkriegsflüchtlinge, humanitäre Flüchtlinge u.a.) ausgeweitet werden. Die restriktiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden (Residenzpflicht) sollte auf ausreisepflichtige Ausländer ausgeweitet werden. Ausreisepflichtige Ausländer, also in den meisten Fällen Flüchtlinge, die durch die engen Maschen des deutschen Asylrechts gefallen waren, erhielten nach der alten Rechtslage zumeist eine "Duldung". Dieser Duldungsstatus sollte abgeschafft werden – aber ein Bleiberecht für die damals ca. 260.000 geduldeten Flüchtlinge damit nicht einhergehen. Sie sollten künftig nur noch eine "Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung" erhalten. Die absurde Idee war, durch die Abschaffung der "Duldung" die Ausländerbehörden zu zwingen, entweder rigoros Abschiebungen durchzusetzen oder, sobald das nicht möglich wäre, einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Die im Gesetz vorgesehenen Hürden für ein humanitäres Aufenthaltsrecht für diese Gruppe waren aber zugleich so hoch, dass allen Experten klar war, dass zwar der Status "Duldung" abgeschafft, aber keineswegs die Lebenslage der Betroffenen verbessert werden würde. Durch weitere Verschlechterungen beim Asylverfahren drohten neue Schutzlücken, etwa für Flüchtlinge, die sich in Deutschland exilpolitisch betätigt hatten und damit ins erneute Fadenkreuz ihrer Verfolgerstaaten geraten waren. Solche selbst geschaffenen "Nachfluchtgründe" sollten grundsätzlich nicht mehr anerkannt werden. Einziger Lichtblick des Gesetzentwurfs: Endlich sollte die nicht-staatliche, insbesondere geschlechtsspezifische Verfolgung, gesetzlich anerkannt werden. Asyl nach Art. 16 Grundgesetz erhielten zuvor nur diejenigen, die nachweisen konnten, wegen ihrer politischen Betätigung von ihrem Herkunftsstaat tatsächlich verfolgt zu werden. So hatten damals afghanische Flüchtlinge in Deutschland keine Chance auf Asyl, weil es in Afghanistan keinen Staat und damit keinen Verfolger gab. Sie waren aber durchaus Flüchtlinge im Sinne der "Genfer Flüchtlingskonvention" (GFK), die sich nicht an der (objektiven) Verfolgungssituation, sondern dem (subjektiven) Schutzbedürfnis der Flüchtlinge orientiert. Dafür spielt es keine Rolle, ob der Staat selbst Verfolger ist, die Verfolgung zulässt oder nicht in der Lage ist, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Das Bundesverwaltungsgericht legte die GFK aber anders aus, so dass die Betroffenen unter erschwerten Bedingungen allenfalls einen "Abschiebeschutz" erhielten und nur geduldet wurden. Mit der gesetzlichen Orientierung an der GFK wurde die restriktive Rechtsprechung in Deutschland korrigiert – auch in Vorgriff auf Harmonisierungsbestrebungen der EU, die sich stark an der GFK orientierten.

Große Koalition des Ausländerstopps

Nachdem SPD und Grüne diesen Gesetzentwurf in der zweiten Auflage ihrer Koalition nochmals vorgelegt hatten, landete er im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Ergebnis war die Streichung der Zuwanderungsquote – lediglich die Möglichkeit der Zuwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte und Selbständiger blieb erhalten. Die Duldung wurde wieder eingeführt. Bei einem ihrer zentralen Projekte konnte die Koalition sich durchsetzen, denn der Rechtsanspruch von neu einreisenden Migranten auf einen Integrationskurs blieb erhalten. Er geht nun allerdings mit einer Verpflichtung zum Besuch dieser Kurse einher, die die Union vehement gefordert hatte.

Sieben Jahre nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes belegen auch die Zahlen, dass der vermeintlich "große Wurf" misslungen ist. Auf Grundlage der neu geschaffenen Zuwanderungsregelung wurde bis 2010 gerade einmal 706 Hochqualifizierten eine Niederlassungserlaubnis, 4.528 Personen zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. 17.918 Hochschulabsolventen erhielten zwischen 2006 und 2009 im Anschluss an ihr Studium eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Ansonsten wird der Zugang von Migranten zum deutschen Arbeitsmarkt weiterhin durch ein Werk von verschiedenen Verordnungen geregelt, die es auch schon vor dem Zuwanderungsgesetz gab; sie regeln den Austausch von Fachkräften in internationalen Unternehmen, Au-pair-Beschäftigung, Saisonarbeit in Landwirtschaft und im Schaustellergewerbe, die Anwerbung von IT-Fachleuten und anderen Fachkräften. Hinzu kommt die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU, die von der Bundesrepublik ohnehin nicht beschränkt werden kann.

Auch im Rahmen des Familiennachzugs geht es um einen Rechtsanspruch, der eigentlich nicht willkürlich beschnitten werden darf. Nachdem die rechtlichen Hürden erhöht worden sind, gingen die Zahlen jedoch zurück. Beim Zuzug von Asylsuchenden hat vor allem die zunehmende Abschottung Europas dazu geführt, dass die Zugangszahlen in Deutschland von 1993 bis 2007 deutlich zurückgegangen sind. Die restriktive Anerkennungspraxis und die Weigerung der Ausländerbehörden, bestehende rechtliche Möglichkeiten im Sinne der Betroffenen auszuschöpfen, führten zu einer weiterhin hohen Zahl lediglich "geduldeter" Flüchtlinge von inzwischen ca. 90.000. Das von SPD und Grünen versprochene Ende der "Kettenduldungen", also die ständig wiederholte kurzfristige Verlängerung der Duldung, lässt bis heute auf sich warten.

Auch wenn das Ausländergesetz nun Aufenthaltsgesetz heißt – es bleibt durchweht vom Geist der Fremdenpolizei, die Ausländer in nützlich ("integriert") und "störend" einteilt. Das Aufenthaltsrecht bleibt kompliziert, Integration wird auf Spracherwerb und eigenständige Lebensunterhaltssicherung reduziert und zunehmend als Sanktionsdrohung verwandt. Von Humanität und Offenheit im deutschen Zuwanderungsrecht ist weiterhin keine Spur.

 

Mehr von Ulla Jelpke in den »Mitteilungen«: 

2011-08: Abschiebehaft macht krank

2011-04: Abwehr statt Integration

2010-09: »Rückführung« ins Elend