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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Niederlage der DDR und des Sozialismus genügt ihnen nicht

Erich Honecker

 

In Erinnerung an den Antifaschisten und Kommunisten Erich Honecker, der am 25. August 1912 geboren wurde, und zugleich aus aktuellen Anlässen dokumentieren wir eine leicht ge­kürzte Fassung seiner »Persönlichen Erklärung vor dem Berliner Landgericht am 3. Dezem­ber 1992«. (Red.)

 

Ich werde dieser Anklage und diesem Gerichtsverfahren nicht dadurch den Anschein des Rechts verleihen, dass ich mich gegen den offensichtlich unbegründeten Vorwurf des Totschlags verteidige. Verteidigung erübrigt sich auch, weil ich Ihr Urteil nicht mehr erleben werde. Die Strafe, die Sie mir offensichtlich zudenken, wird mich nicht mehr erreichen. Das weiß heute jeder. Ein Prozess gegen mich ist schon aus diesem Grunde eine Farce. Er ist ein politisches Schauspiel. Niemand in den alten Bundeslän­dern, einschließlich der Frontstadt Westberlin, hat das Recht, meine Genossen Mit­angeklagten, mich, oder irgendeinen anderen Bürger der DDR wegen Handlungen anzu­klagen oder gar zu verurteilen, die in Erfüllung staatlicher Aufgaben der DDR begangen worden sind.

Wenn ich hier spreche, so spreche ich allein um Zeugnis abzulegen für die Ideen des Sozialismus, für eine gerechte politische und moralische Beurteilung der von mehr als einhundert Staaten völkerrechtlich anerkannten Deutschen Demokratischen Republik. Diese jetzt von der BRD als »Unrechtsstaat« apostrophierte Republik war ein Mitglied des Weltsicherheitsrates, stellte zeitweise den Vorsitzenden dieses Rates und stellte auch einmal den Vorsitzenden der UN-Vollversammlung. Die gerechte politische und moralische Beurteilung der DDR erwarte ich nicht von diesem Prozess und diesem Gericht. Ich nehme jedoch die Gelegenheit dieses Politschauspiels wahr, um meinen Standpunkt meinen Mitbürgern zur Kenntnis zu geben. Meine Situation in diesem Pro­zess ist nicht ungewöhnlich. Der deutsche Rechtsstaat hat schon Karl Marx, August Bebel, Karl Liebknecht und viele andere Sozialisten und Kommunisten angeklagt und verurteilt.

Immer die gleiche Willkür

Das Dritte Reich hat dies mit den aus dem Rechtsstaat der Weimarer Republik über­nommenen Richtern in vielen Prozessen fortgesetzt, von denen ich selbst einen als Ange­klagter erlebt habe. Nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus und des Hitler­staates brauchte die BRD nicht nach neuen Staatsanwälten und Richtern zu suchen, um erneut Kommunisten massenhaft strafrechtlich zu verfolgen, ihnen mit Hilfe der Arbeitsgerichte Arbeit und Brot zu nehmen und sie mit Hilfe der Verwaltungsgerichte aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen oder sie auf andere Weise zu verfolgen.

Nun geschieht uns das, was unseren Genossen in Westdeutschland schon in den 50er Jahren geschah. Es ist seit ca. 190 Jahren immer die gleiche Willkür. Der Rechtsstaat BRD ist kein Staat des Rechts, sondern ein Staat der Rechten. Für diesen Prozess wie für andere Prozesse, in denen andere DDR-Bürger wegen ihrer »Systemnähe« vor Straf-, Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichten verfolgt werden, muss ein Argument herhalten. Die Politiker und Juristen sagen, wir müssen die Kommunisten verurteilen, weil wir die Nazis nicht verurteilt haben. Wir müssen diesmal die Vergangenheit auf­arbeiten. Das leuchtet vielen ein, ist aber ein Scheinargument. Die Wahrheit ist, dass die westdeutsche Justiz die Nazis nicht bestrafen konnte, weil sich Richter und Staats­anwälte nicht selbst bestrafen konnten.

Die Wahrheit ist, dass die bundesdeutsche Justiz ihr derzeitiges Niveau, wie immer man es beurteilt, den übernommenen Nazis verdankt. Die Wahrheit ist, dass die Kom­munisten, die DDR-Bürger heute aus den gleichen Gründen verfolgt werden, aus denen sie in Deutschland schon immer verfolgt wurden. Nur in den 40 Jahren der Existenz der DDR war das umgekehrt. Dieses Versäumnis muss nun »aufgearbeitet« werden. Das alles ist natürlich rechtsstaatlich. Mit Politik hat es nicht das Geringste zu tun. Die führenden Juristen dieses Landes, gleich ob Angehörige der Regierungsparteien oder der SPD, erklären beschwörend, unser Prozess sei ein ganz normales Strafverfahren und kein politischer Prozess, kein Schauprozess. Man sperrt die Mitglieder eines der höchsten Staatsorgane des Nachbarstaates ein und sagt, das hat mit Politik nichts zu tun. Man wirft den Generalen eines gegnerischen Militärbündnisses militärische Ent­scheidungen vor und sagt, das hat mit Politik nichts zu tun. Man nennt die heute Ver­brecher, die man gestern ehrenvoll als Staatsgäste und Partner in dem gemeinsamen Bemühen, dass nie wieder von deutschem Boden ein Krieg ausgeht, begrüßt hat. Auch das soll mit Politik nichts zu tun haben.

Man klagt Kommunisten an, die, seit sie auf der politischen Bühne erschienen sind, immer verfolgt wurden, aber heute in der BRD hat das mit Politik nichts zu tun. Für mich und, wie ich glaube, für jeden Unvoreingenommenen liegt auf der Hand: Dieser Prozess ist so politisch, wie ein Prozess gegen die politische und militärische Führung der DDR nur sein kann. Wer das leugnet, der irrt nicht, sondern der lügt. Er lügt, um das Volk ein weiteres Mal zu betrügen. Mit diesem Prozess wird das getan, was man uns vorwirft. Man entledigt sich der politischen Gegner mit den Mitteln des Straf­rechts, aber natürlich ganz rechtsstaatlich. Auch andere Umstände lassen unüberseh­bar erkennen, dass mit dem Prozess politische Ziele verfolgt werden. Warum war der Bundeskanzler, war Herr Kinkel, der frühere Geheimdienstchef, spätere Justizminister und noch spätere Außenminister der BRD, so darauf aus, mich, koste es, was es wolle, nach Deutschland zurückzuholen und wieder nach Moabit zu bringen, wo ich unter Hitler schon einmal war? Warum ließ mich der Bundeskanzler erst nach Moskau flie­gen, um dann Moskau und Chile unter Druck zu setzen, mich entgegen jedem Völker­recht auszuliefern?

Warum mussten russischen Ärzte die richtige Diagnose, die sie auf Anhieb gestellt hatten, verfälschen? Warum führt man mich und meine Genossen, denen es gesundheitlich nicht viel besser geht als mir, dem Volke vor wie einst die römischen Cäsaren ihre gefangenen Gegner vorführten? Ich weiß nicht, ob das alles noch rational zu erklären ist.

Vielleicht bewahrheitet sich hier das alte Wort: Wen Gott vernichten will, den schlägt er zuvor mit Blindheit. Es ist doch wohl jedem klar, dass alle diejenigen Politiker, die sich einst um eine Audienz bei mir bemühten und die sich freuten, mich bei sich begrü­ßen zu dürfen, von diesem Prozess nicht unbeschadet bleiben. Dass an der Mauer Menschen erschossen wurden, dass ich der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungs­rates, der Generalsekretär, der Vorsitzende des Staatsrates der DDR war, der für diese Mauer als höchster lebender Politiker die größte Verantwortung trug, wusste jedes Kind in Deutschland und darüber hinaus. Es gibt demnach nur zwei Möglichkeiten: Ent­weder haben die Herren Politiker der BRD bewusst, freiwillig und sogar begierig Umgang mit einem Totschläger gesucht, oder sie lassen jetzt bewusst und genussvoll zu, dass Unschuldige des Totschlags bezichtigt werden.

Keine dieser beiden Möglichkeiten wird ihnen zur Ehre gereichen. Eine dritte Möglich­keit gibt es nicht. Wer dieses Dilemma in Kauf nimmt, so oder so ein Mensch ohne Charakter zu sein, ist entweder blind oder verfolgt ein Ziel, das ihm mehr gilt als die Bewahrung seiner Ehre. Nehmen wir an, dass weder Herr Kohl noch Herr Kinkel noch all die anderen Herren Ministerpräsidenten und Parteiführer der Bundesrepublik Deutschland blind sind (was ich dennoch nicht ausschließen kann), dann bleibt als politisches Ziel dieses Prozesses nur die Absicht, die DDR und damit den Sozialismus in Deutschland total zu diskreditieren. Die Niederlage der DDR und des Sozialismus in Deutschland und in Europa allein genügt ihnen offenbar nicht. Es soll alles ausgerottet werden, was diese Epoche, in der Arbeiter und Bauern regierten, in einem anderen als furchtbarem, verbrecherischem Licht erscheinen lässt. Total sollen der Sieg der Markt­wirtschaft (wie man den Kapitalismus heute euphemistisch nennt) und die Niederlage des Sozialismus sein. Man will, wie es Hitler einst vor Stalingrad sagte, »dass dieser Feind sich nie mehr erheben wird«. Die deutschen Kapitalisten hatten eben immer schon einen Hang zum Totalen. Dieses Ziel des Prozesses, den totgesagten Sozialis­mus noch einmal zu töten, offenbart, wie Herr Kohl, wie Regierung und Opposition der BRD die Lage einschätzen.

Der Kapitalismus hat sich ökonomisch genauso totgesiegt, wie sich Hitler einst militä­risch totgesiegt hat. Der Kapitalismus ist weltweit in eine ausweglose Lage geraten. Er hat nur noch die Wahl zwischen dem Untergang in einem ökologischen und sozialen Chaos und der Aufgabe des Privateigentums an Produktionsmitteln, d.h. dem Sozialis­mus. Beides bedeutet sein Ende. Nur der Sozialismus erscheint den Herrschenden der Bundesrepublik Deutschland offenbar als die akutere Gefahr. Dem soll dieser Prozess genauso vorbeugen wie der ganze Feldzug gegen das Andenken an die untergegangene DDR, wie deren Stigmatisierung als »Unrechtsstaat«.

Prozessziel: Verunglimpfung der DDR

Der unnatürliche Tod jedes Menschen in unserem Land hat uns immer bedrückt. Der Tod an der Mauer hat uns nicht nur menschlich betroffen, sondern auch politisch geschädigt. Vor allen anderen trage ich seit Mai 1971 die Hauptlast der politischen Verantwortung dafür, dass auf denjenigen, der die Grenze zwischen der DDR und der BRD, zwischen Warschauer Vertrag und NATO, ohne Genehmigung überschreiten woll­te, unter den Bedingungen der Schusswaffengebrauchsbestimmung geschossen wur­de. Das ist sicher eine schwere Verantwortung. Ich werde später noch darlegen, warum ich sie auf mich genommen habe. Hier, bei der Bestimmung des politischen Ziels dieses Prozesses, komme ich jedoch nicht umhin, auch festzustellen, mit welchen Mitteln das Prozessziel Verunglimpfung der DDR erreicht werden soll. Dieses Mittel sind die Toten an der Mauer. Sie sollen und werden diesen Prozess wie schon vorange­gangene Prozesse medienwirksam gestalten. Es fehlen dabei die ermordeten Grenzsol­daten der DDR. Wir und vor allem Sie haben bereits erlebt, wie ohne Rücksicht auf Pietät und Anstand die Bilder der Toten vermarktet wurden.

[...]

Damit soll die DDR als »Unrechtsstaat« gebrandmarkt und alle, die ihr dienten, zu Ver­brechern gestempelt werden. Die Verfolgung von Zehntausenden und unter Umstän­den Hunderttausenden DDR-Bürgern, von denen die Staatsanwaltschaft jetzt schon spricht, ist das Ziel dieses Verfahrens, das durch »Pilotverfahren« gegen Grenzsoldaten vorbereitet sowie von unzähligen, die DDR-Bürger diskriminierenden anderen Gerichts­verfahren vor Zivil, Sozial-, Arbeits- und Verwaltungsgerichten und von zahlreichen Ver­waltungsakten begleitet wird. Es geht also nicht um mich oder um uns, die wir in diesem Prozess angeklagt sind. Es geht um die Zukunft Deutschlands, Europas, ja der Welt, die mit der Beendigung des Kalten Krieges, mit dem neuen Denken so glücklich zu beginnen schien.

Hier wird nicht nur der Kalte Krieg fortgesetzt, hier soll ein Grundstein für ein Europa der Reichen gelegt werden. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit soll wieder einmal end­gültig erstickt werden. Unsere Brandmarkung als Totschläger soll dazu ein Mittel sein. Ich bin der letzte, der gegen sittliche und rechtliche Maßstäbe zur Be- oder auch Verur­teilung von Politikern ist. Nur müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Die Maßstäbe müssen exakt vorher formuliert sein. Sie müssen für alle Politiker gleichermaßen gelten. Ein überparteiliches Gericht, also ein Gericht, das weder mit Freunden noch Feinden der Angeklagten besetzt ist, muss entscheiden. Mir scheint, dass alles dies einerseits selbstverständlich, andererseits aber in der heutigen Welt noch nicht mach­bar ist. Wenn Sie heute dennoch über uns zu Gericht sitzen, so tun Sie das als Gericht der Sieger über uns Besiegte. Dies ist ein Ausdruck der realen Machtverhältnisse, aber nicht ein Akt, der irgendeinen Anspruch auf Geltung vor überpositivem Recht oder überhaupt Recht für sich beanspruchen kann. Das allein könnte schon genügen, um darzulegen, dass die Anklage ein Unrechtsakt ist.

Doch da wir die Auseinandersetzung auch im Detail nicht scheuen, will ich im Einzel­nen darlegen, was die Anklage, sei es aus böser Absicht, sei es aus Verblendung, nicht darlegt. Wie bereits zitiert, beginnt die Anklage die chronologische Aufzählung der Vor­würfe gegen uns mit den Worten: »Am 12. August 1961 ordnete der Angeschuldigte Honecker als Sekretär des NVR und Sekretär für Sicherheitsfragen beim Zentralkomi­tee der SED an, die Grenzanlagen um Berlin (West) und die Sperranlagen zur Bundesre­publik Deutschland auszubauen, um ein Passieren unmöglich zu machen.« Diese histo­rische Sicht der Dinge spricht für sich. Der Sekretär für Sicherheitsfragen des ZK der SED ordnete 1961 ein welthistorisches Ereignis an. Das übertrifft noch die Selbstiro­nie der DDR-Bürger, die die DDR als die größte DDR der Welt bezeichneten. Wenn auch heute Enno von Löwenstern die DDR zu einem »großen Land« machen will, um den Sieg der BRD entsprechend gewichtiger darstellen zu können, so versucht doch nicht einmal dieser Rechtsaußen des politischen deutschen Journalismus, die DDR zur Welt­macht hochzustilisieren.

Das bleibt der »objektivsten Behörde der Welt«, der Staatsanwaltschaft, vorbehalten. Jeder macht sich vor der Geschichte so lächerlich, wie er will und kann. Wahr ist, dass der Bau der Mauer auf einer Sitzung der Staaten des Warschauer Vertrages am 5.8.1961 in Moskau beschlossen wurde. In diesem Bündnis sozialistischer Staaten war die DDR ein wichtiges Glied, aber nicht die Führungsmacht. Dies dürfte gerichtsbe­kannt sein und braucht wohl nicht bewiesen zu werden. Da wir – wie ich schon sagte – offensichtlich niemand persönlich totgeschlagen noch den Totschlag eines Menschen unmittelbar befohlen haben, wird der Bau der Mauer, ihre Aufrechterhaltung und die Durchsetzung des Verbots, die DDR ohne staatliche Genehmigung zu verlassen, als Tötungshandlung angesehen. Mit Politik soll das alles nichts zu tun haben. Die deut­sche Jurisprudenz macht das möglich. Nur vor der Geschichte und dem gesunden Men­schenverstand wird sie damit nicht bestehen. Sie wird nur ein weiteres Mal demons­trieren, woher sie kommt, wes Geistes Kind sie ist und wohin Deutschland zu gehen im Begriff steht. Wir alle, die wir in den Staaten des Warschauer Vertrages damals Verant­wortung trugen, trafen diese politische Entscheidung gemeinsam.

Ich sage das nicht, um mich zu entlasten und die Verantwortung auf andere abzuwäl­zen; ich sage es nur, weil es so und nicht anders war, und ich stehe dazu, dass diese Entscheidung damals, 1961, richtig war und richtig blieb, bis die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR beendet war. [...] Wie und warum es zum Bau der Mauer gekommen ist, interessiert die Staatsanwaltschaft nicht. Kein Wort steht darüber in der Anklage. Die Ursachen und Bedingungen werden unterschlagen, die Kette der historischen Ereignisse wird willkürlich zerrissen. Erich Honecker hat die Mauer gebaut und aufrechterhalten. Basta.

So einfach vermag der bundesdeutsche Jurist die Geschichte zu sehen und darzustel­len. Hauptsache, der Kommunist wird zum Kriminellen gestempelt und als solcher ver­urteilt. Dabei kann doch jeder Deutsche wissen, wie es zur Mauer kam und warum dort geschossen wurde. Da die Anklage so tut, als sei es dem Sozialismus eigen, Mauern zu bauen und daran Menschen erschießen zu lassen, und als trügen solche »verbrecheri­schen« Einzelpersonen wie ich und meine Genossen dafür die Verantwortung, muss ich, ohne Historiker zu sein, die Geschichte, die zur Mauer führte, rekapitulieren. Der Ursprung liegt weit zurück. Er beginnt mit der Entstehung des Kapitalismus und des Proletariats. Der unmittelbare Beginn des Elends der deutschen Geschichte der Neu­zeit ist das Jahr 1933.

1933 haben bekanntlich sehr viele Deutsche in freien Wahlen die NSDAP gewählt, und der Reichspräsident Hindenburg, der schon 1932 ebenfalls frei gewählt worden war, hat Adolf Hitler dann ganz demokratisch zum Reichskanzler berufen. Anschließend ha­ben die politischen Vorläufer unserer etablierten Parteien mit Ausnahme der SPD dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, das Hitler diktatorische Vollmachten verlieh. Nur die Kommunisten hatten vor den genannten Wahlen gesagt: »Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg.« Bei der Abstimmung zum Ermächtigungs­gesetz waren die kommunistischen Abgeordneten bereits aus dem Reichstag entfernt. Viele Kommunisten waren inhaftiert oder lebten illegal. Schon damals begann mit dem Verbot der Kommunisten der Untergang der Demokratie in Deutschland. Kaum war Hitler Reichskanzler, erlebte Deutschland sein erstes Wirtschaftswunder. Die Arbeits­losigkeit wurde überwunden, die Anrechtsscheine auf Volkswagen wurden verkauft, die kochende Volksseele führte zur Vertreibung und Ermordung der Juden. Das deutsche Volk war in seiner Mehrheit glücklich und zufrieden. Als der Zweite Weltkrieg ausge­brochen war und die Fanfaren die Siege in den Blitzkriegen gegen Polen, Norwegen, Dänemark, Belgien, Holland, Luxemburg, Frankreich Jugoslawien und Griechenland ver­meldeten, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Die Herzen fast aller Deutschen schlugen für ihren Kanzler, für den größten Führer aller Zeiten. Kaum einer dachte daran, dass das Tausendjährige Reich nur zwölf Jahre bestehen würde.

Nachdem 1945 alles in Scherben lag, gehörte nicht die ganze Welt Deutschland (wie es in einem bekannten Nazilied vorausgesungen wurde), sondern Deutschland gehörte den Alliierten. Deutschland war in vier Zonen geteilt. Freizügigkeit gab es nicht. Dieses Menschenrecht galt damals bei den Alliierten noch nicht. Es galt nicht einmal für die deutschen Emigranten, die wie Gerhart Eisler aus den USA nach Deutschland zurück­kehren wollten. In den USA gab es damals Pläne (z.B. den Morgenthauplan), Deutsch­land für dauernd in mehrere Staaten aufzuteilen. Diese Pläne gaben Stalin Veranlas­sung zu seinem oft zitierten Satz: »Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk und der deutsche Staat bleiben.« Die damals von der UdSSR angestrebte Erhaltung der Einheit Deutschlands kam jedoch nicht zustande. Deutschland wurde im Ergebnis des 1947 von den USA ausgerufenen Kalten Krieges auf dem Weg über die Bildung der Bizone, der Trizone, die separate Währungsreform und schließlich die Bildung der Bun­desrepublik im Mai 1949 für lange Zeit zweigeteilt. Diese Teilung war, wie die zeitliche Abfolge beweist, nicht das Werk der Kommunisten, sondern das Werk der westlichen Alliierten und Konrad Adenauers. Die Bildung der DDR war eine zeitliche und logische Folge der Bildung der BRD.

Der Bau der Mauer hatte die Weltlage entspannt

Nunmehr existierten zwei deutsche Staaten nebeneinander. Die BRD war jedoch nicht gewillt, die DDR anzuerkennen und mit ihr friedlich zu leben. Sie erhob vielmehr für ganz Deutschland und alle Deutschen den Alleinvertretungsanspruch. Sie verhängte mit Hilfe ihrer Verbündeten über die DDR ein Wirtschaftsembargo und versuchte so, die DDR wirtschaftlich und politisch zu isolieren. Es war eine Politik der nichtkriegeri­schen Aggression, die die BRD gegen die DDR führte. Es war dies die Form des Kalten Krieges auf deutschem Boden. Es war diese Politik, die zur Mauer führte.

Nachdem die BRD der NATO beigetreten war, schloss sich die DDR dem Warschauer Vertrag an.

Damit standen sich beide deutschen Staaten als Mitglieder feindlicher Militärbündnis­se feindlich gegenüber. Die BRD war der DDR nach der Zahl ihrer Bevölkerung, nach ihrer Wirtschaftskraft und nach ihren politischen und ökonomischen Verbindungen in vielfacher Hinsicht überlegen. Die BRD hatte durch den Marshallplan und durch gerin­gere Reparationsleistungen weniger an den Kriegsfolgen zu tragen. Sie hatte mehr Naturreichtümer und ein größeres Territorium. Sie nutzte diese vielfache Überlegenheit gegenüber der DDR in jeder Hinsicht, besonders aber dadurch aus, dass sie DDR-Bür­gern materielle Vorteile versprach, wenn sie ihr Land verließen. Viele DDR-Bürger erla­gen dieser Versuchung und taten das, was die Politiker der BRD von ihnen erwarteten: Sie »stimmten mit den Füßen ab«. Der wirtschaftliche Erfolg verlockte die Deutschen nach 1945 nicht weniger, als er sie nach 1933 verlockt hatte. Die DDR und die mit ihr verbündeten Staaten des Warschauer Vertrages gerieten in eine schwierige Situation. Die Politik des Rollback schien in Deutschland zum Erfolg zu führen.

Die NATO schickte sich an, ihren Einflussbereich bis an die Oder zu erweitern. Durch diese Politik entstand 1961 eine Spannungssituation in Deutschland, die den Weltfrie­den gefährdete. Die Menschheit stand am Rande eines Atomkrieges. In dieser Situa­tion also beschlossen die Staaten des Warschauer Vertrages den Bau der Mauer. Niemand fasste diesen Entschluss leichten Herzens. Er trennte nicht nur Familien, son­dern er war auch das Zeichen einer politischen und wirtschaftlichen Schwäche des Warschauer Vertrages gegenüber der NATO, die nur mit militärischen Mitteln ausgegli­chen werden konnte. Bedeutende Politiker außerhalb Deutschlands, aber auch in der BRD, erkannten nach 1961 an, dass der Bau der Mauer die Weltlage entspannt hatte. Franz Josef Strauß schrieb in seinen Erinnerungen: »Mit dem Bau der Mauer war die Krise, wenn auch in einer für die Deutschen unerfreulichen Weise, nicht nur aufgeho­ben, sondern eigentlich auch abgeschlossen.« (Seite 390) Vorher hat er über den geplanten Atombombenabwurf im Gebiet der DDR berichtet (Seite 388). Aus meiner Sicht hätte es weder den Grundlagenvertrag noch Helsinki noch die Einheit Deutsch­lands gegeben, wenn damals die Mauer nicht gebaut oder wenn sie vor der Beendigung des Kalten Krieges abgerissen worden wäre.

Deswegen meine ich, dass ich genauso wie meine Genossen nicht nur keine juristi­sche, sondern auch keine politische und keine moralische Schuld auf mich geladen habe, als ich zur Mauer ja sagte und dabei blieb. Es ist in der Geschichte Deutschlands sicher nur am Rande zu vermerken, dass jetzt viele Deutsche sowohl aus dem Westen wie aus dem Osten sich die Mauer wieder wünschen. Fragen muss man aber auch, was geschehen wäre, wenn wir uns so verhalten hätten, wie das die Anklage als selbstver­ständlich voraussetzt. Das heißt, wenn wir die Mauer nicht gebaut, die Ausreise aus der DDR jedem zugebilligt und damit freiwillig die DDR schon 1961 aufgegeben hätten. Man muss nicht spekulieren, um sich die Ergebnisse einer solchen Politik vorzustellen.

Man muss nur wissen, was 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR geschehen ist. Genauso wie dort hätten auch 1961 in der DDR die ohnehin anwesenden sowjetischen Truppen interveniert. Auch in Polen rief 1981 Jaruzelski das Kriegsrecht aus, um eine solche Intervention zu verhindern. Eine derartige Zuspitzung der Ereignisse, wie sie von der Anklage als selbstverständliche politische, moralische und juristische Aktion von uns verlangt wird, hätte das Risiko eines dritten Weltkrieges bedeutet. Dieses Risi­ko wollten, konnten und durften wir nicht eingehen. Wenn das in Ihren Augen ein Ver­brechen ist, so werden Sie sich vor der Geschichte mit Ihrem Urteil selbst richten. Das wäre an sich nicht bedeutungsvoll. Bedeutungsvoll ist jedoch, dass Ihr Urteil ein Signal sein wird, das die alten Fronten erneut aufreißt, statt sie zu schließen. Sie demonstrie­ren damit im Angesicht eines drohenden ökologischen Kollapses der Welt die alte Klas­senkampfstrategie der 30er Jahre und die Machtpolitik, die Deutschland seit dem eisernen Kanzler berühmt gemacht hat. Wenn Sie uns wegen unserer politischen Ent­scheidung von 1961 bis 1989 verurteilen, und ich gehe davon aus, dass Sie das tun werden, so fällen Sie Ihr Urteil nicht nur ohne rechtliche Grundlage, nicht nur als ein parteiisches Gericht, sondern auch unter völliger Außerachtlassung der politischen Gepflogenheiten und Verhaltensweisen derjenigen Länder, die als Rechtsstaaten Ihren höchsten Respekt genießen.

Ich will und kann in diesem Zusammenhang nicht alle Fälle aufzählen, in denen politi­sche Entscheidungen in diesen 28 Jahren Menschenleben gefordert haben, weil ich Ihre Zeit und Ihre Sensibilität nicht überstrapazieren will. Auch kann ich mich nicht mehr an alles erinnern. Nur folgendes will ich erwähnen: 1964 entschied der damalige Präsident der USA, Kennedy, Truppen nach Vietnam zu entsenden, um anstelle der besiegten Franzosen bis 1973 Krieg gegen die um ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstbestimmungsrecht kämpfenden Vietnamesen zu führen. Diese Entschei­dung des Präsidenten der USA, die eine eklatante Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts beinhaltete, wurde von der Regierung der BRD in keiner Form kriti­siert. Die Präsidenten der USA Kennedy, Johnson und Nixon wurden vor kein Gericht gestellt, auf ihre Ehre fiel, zumindest wegen dieses Krieges, kein Schatten. Dabei hatte kein US-amerikanischer und kein vietnamesischer Soldat die Freiheit, zu entscheiden, ob er sich wegen dieses ungerechten Krieges in Lebensgefahr begeben wollte oder nicht. 1982 setzte England Truppen gegen Argentinien ein, um die Falklandinseln als Kolonie für das Empire zu erhalten.

Die »Eiserne Lady« sicherte sich damit einen Wahlsieg, und ihr Ansehen wurde dadurch, auch nachdem sie abgewählt worden ist, nicht beschädigt, von Totschlag keine Rede. 1983 befahl der Präsident Reagan seinen Truppen die Besetzung von Grenada. Niemand genießt in Deutschland höheres Ansehen als dieser Präsident der USA. Keine Frage, dass die Opfer dieses Unternehmens rechtens zu Tode gekommen sind. 1986 ließ Reagan die Städte Tripolis und Bengasi in einer Strafaktion bombardie­ren, ohne zu fragen, ob seine Bomben Schuldige oder Unschuldige trafen. 1989 ordne­te Präsident Bush an, General Noriega aus Panama mit Waffengewalt zu entführen. Tausende unschuldige Panamesen wurden dabei getötet. Wiederum fiel auf den Präsi­denten der USA kein Makel, geschweige denn, dass er wegen Totschlags oder Mordes angeklagt wurde. Die Aufzählung ließe sich beliebig erweitern. Von dem Verhalten Eng­lands in Irland überhaupt nur zu sprechen, dürfte als unanständig gelten.

Eine objektive Bilanz fiele zugunsten der DDR aus

Nach dem, was die Waffen der Bundesrepublik Deutschland unter türkischen Kurden oder der schwarzen Bevölkerung Südafrikas anrichten, werden zwar rhetorische Fragen gestellt, doch niemand zählt die Toten, und niemand nennt die Schuldigen. Ich habe hier nur die als besonders rechtsstaatlich anerkannten Staaten mit nur einigen ihrer politischen Entscheidungen aufgezählt. Jeder kann vergleichen, wie sich diese Entscheidungen zu der Entscheidung verhalten, an der Grenze des Warschauer Vertra­ges und der NATO eine Mauer zu errichten. Sie werden sagen, dass Sie über die Hand­lungen in anderen Ländern nicht entscheiden können und dürfen. Sie werden sagen, dass Sie das alles nicht interessiert.

Doch ich meine, das Urteil der Geschichte über die DDR kann nicht gefällt werden, ohne dass die Ereignisse Berücksichtigung finden, die sich in der Zeit der Existenz der DDR auf Grund der Auseinandersetzung zwischen den beiden Blöcken in anderen Län­dern abspielten. Ich meine darüber hinaus auch, dass politische Handlungen nur aus dem Geist ihrer Zeit zu beurteilen sind. Wenn Sie die Augen davor verschließen, was von 1961 bis 1989 in der Welt außerhalb Deutschlands passierte, können Sie kein gerechtes Urteil fällen. Auch wenn Sie sich auf Deutschland beschränken und die politischen Entscheidungen in beiden deutschen Staaten einander gegenüberstellen, würde eine ehrliche und objektive Bilanz zugunsten der DDR ausfallen.

Wer seinem Volk das Recht auf Arbeit und das Recht auf Wohnung verweigert, wie das in der BRD der Fall ist, nimmt in Kauf, dass zahlreichen Menschen ihre Existenz genommen wird und sie keinen anderen Ausweg sehen, als aus dem Leben zu schei­den. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Drogenmissbrauch, Beschaffungskriminalität, Kriminalität überhaupt sind alle das Ergebnis der politischen Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft. Selbst anscheinend so politisch neutrale Entscheidungen wie die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen sind Folgen einer Staatsverfassung, in der nicht die frei gewählten Politiker, sondern die nichtgewählten Wirtschaftsbosse das Sagen haben. Wenn die Abteilung Regierungskriminalität des Generalstaatsanwalts beim Kammergericht ihre Aufmerksamkeit einmal hierauf richten würde, hätte ich bald die Möglichkeit, den Repräsentanten der Bundesrepublik wieder wie früher die Hand zu schütteln. – Diesmal allerdings in Moabit. Das wird natürlich nicht geschehen, weil die Toten der Marktwirtschaft alle rechtens ihr Leben verloren. Ich bin nicht derjenige, der die Bilanz der Geschichte der DDR ziehen kann. Die Zeit dafür ist noch nicht gekom­men. Die Bilanz wird später und von anderen gezogen werden. Ich habe für die DDR gelebt. Ich habe insbesondere seit Mai 1971 einen beträchtlichen Teil der Verantwor­tung für ihre Geschichte getragen. Ich bin also befangen und darüber hinaus durch Alter und Krankheit geschwächt.

Dennoch habe ich am Ende meines Lebens die Gewissheit, die DDR wurde nicht umsonst gegründet. Sie hat ein Zeichen gesetzt, dass Sozialismus möglich und besser sein kann als Kapitalismus. Sie war ein Experiment, das gescheitert ist.

Doch noch nie hat die Menschheit wegen eines gescheiterten Experiments die Suche nach neuen Erkenntnissen und Wegen aufgegeben. Es ist nun zu prüfen, warum das Experiment scheiterte. Sicher scheiterte es auch, weil wir, ich meine damit die Verant­wortlichen in allen europäischen sozialistischen Ländern, vermeidbare Fehler began­gen haben. Sicher scheiterte es in Deutschland unter anderem auch deswegen, weil die Bürger der DDR wie andere Deutsche vor ihnen eine falsche Wahl trafen und weil unsere Gegner noch übermächtig waren. Die Erfahrungen aus der Geschichte der DDR werden mit den Erfahrungen aus der Geschichte der anderen ehemaligen sozialisti­schen Länder für die Millionen in den noch existierenden sozialistischen Ländern und für die Welt von morgen insgesamt nützlich sein.

Wer seine Arbeit und sein Leben für die DDR eingesetzt hat, hat nicht umsonst gelebt. Immer mehr »Ossis« werden erkennen, dass die Lebensbedingungen in der DDR sie weniger deformiert haben, als die »Wessis« durch die »soziale« Marktwirtschaft defor­miert worden sind, dass die Kinder in der DDR in Krippen, in Kindergärten und Schulen sorgloser, glücklicher, gebildeter und freier aufwuchsen als die Kinder in den von Gewalttaten beherrschten Schulen, Straßen und Plätzen der BRD. Kranke werden erkennen, dass sie in dem Gesundheitswesen der DDR trotz technischer Rückstände Patienten und nicht kommerzielle Objekte für das Marketing von Ärzten waren. Künst­ler werden begreifen, dass die angebliche oder wirkliche DDR-Zensur nicht so kunst­feindlich war wie die Zensur des Marktes.

Staatsbürger werden spüren, dass die DDR-Bürokratie plus der Jagd auf knappe Waren nicht so viel Freizeit erforderte wie die Bürokratie der BRD. Arbeiter und Bauern wer­den erkennen, dass die BRD ein Staat der Unternehmer (sprich Kapitalisten) ist und dass die DDR sich nicht ohne Grund einen Arbeiter-und-Bauern-Staat nannte. Frauen werden die Gleichberechtigung und das Recht, über ihren Körper selbst zu bestimmen, die sie in der DDR hatten, jetzt höher schätzen. Viele werden nach der Berührung mit dem Gesetz und dem Recht der BRD mit Frau Bohley, die uns Kommunisten verdammt, sagen: »Gerechtigkeit haben wir gewollt. Den Rechtsstaat haben wir bekommen.« Viele werden auch begreifen, dass die Freiheit, zwischen CDU/CSU, SPD und FDP zu wäh­len, nur die Freiheit zu einer Scheinwahl bedeutet. Sie werden erkennen, dass sie im täglichen Leben, insbesondere auf ihrer Arbeitsstelle, in der DDR ein ungleich höheres Maß an Freiheit hatten, als sie es jetzt haben.

Schließlich werden die Geborgenheit und Sicherheit, die die kleine und im Verhältnis zur BRD arme DDR ihren Bürgern gewährte, nicht mehr als Selbstverständlichkeit miss­achtet werden, weil der Alltag des Kapitalismus jetzt jedem deutlich macht, was sie in Wahrheit wert sind. Die Bilanz der 40jährigen Geschichte der DDR sieht anders aus, als sie von den Politikern und Medien der BRD dargestellt wird. Der wachsende zeitli­che Abstand wird das immer deutlicher machen. Der Prozess gegen uns Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR soll ein Nürnberger Prozess gegen Kommunis­ten werden. Dieses Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt. In der DDR gab es keine Konzentrationslager, keine Gaskammern, keine politischen Todesurteile, keinen Volks­gerichtshof, keine Gestapo, keine SS. Die DDR hat keinen Krieg geführt und keine Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen begangen.

Die DDR war ein konsequent antifaschistischer Staat, der wegen seines Eintretens für den Frieden hohes internationales Ansehen besaß. Der Prozess gegen uns als die »Großen« der DDR soll dem Argument entgegengesetzt werden, »die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen«. Das Urteil über uns soll damit den Weg völlig freimachen, um auch die Kleinen zu »hängen«. Schon bisher hat man sich allerdings hierbei wenig Zwang auferlegt. Der Prozess soll die Grundlage für die Brandmarkung der DDR als »Unrechtsstaat« bilden. Ein Staat, der von solchen »Verbrechern« wie uns, von »Totschlägern« regiert wurde, kann nur ein »Unrechtsstaat« sein. Wer ihm nahe­stand, wer ein pflichtbewusster Bürger der DDR war, soll mit einem Kainszeichen gebrandmarkt werden. Ein Unrechtsstaat kann natürlich nur von »verbrecherischen Organisationen« wie dem MfS, der SED usw. geführt und gestützt worden sein. Kollek­tivschuld, kollektive Verurteilung soll an die Stelle individueller Verantwortlichkeit treten, um das Fehlen von Beweisen für die behaupteten Verbrechen zu verschleiern.

Negierung des neuen Denkens in Fortsetzung des Kalten Krieges

Pfarrer aus der DDR geben ihren Namen für eine neue Inquisition, für eine moderne Hexenjagd. Millionen werden so gnadenlos ausgegrenzt, aus der Gesellschaft ausge­stoßen. Vielen werden die Existenzmöglichkeiten bis aufs äußerste eingeschränkt. Es reicht, als IM registriert worden zu sein, um den bürgerlichen Tod zu erleiden. Der Jour­nalist als Denunziant wird hoch gelobt und reich entlohnt, nach seinem Opfer fragt nie­mand. Die Zahl der Selbstmorde ist tabu. Das alles unter einer Regierung, die sich christlich und liberal nennt, sowie mit Duldung, ja sogar Unterstützung einer Opposi­tion, die diesen Namen ebenso wenig verdient wie die Bezeichnung »sozial«. – Das alles geschieht mit dem selbstverliehenen Gütesiegel des Rechtsstaats. Der Prozess offenbart seine politische Dimension auch als Prozess gegen Antifaschisten. Zu einer Zeit, in der der rechte neonazistische Mob ungestraft auf den Straßen tobt, Ausländer verfolgt und wie in Mölln ermordet werden, zeigt der Rechtsstaat seine ganze Kraft bei der Verhaftung demonstrierender Juden und eben bei der Verfolgung von Kommunisten.

Hier fehlt es auch nicht an Beamten und Geld. Das alles hatten wir schon einmal. Resümiert man den politischen Gehalt dieses Prozesses, so stellt er sich als Fortset­zung des Kalten Krieges, als Negierung des neuen Denkens dar. Er enthüllt den wahren politischen Charakter dieser Bundesrepublik. Die Anklage, die Haftbefehle und der Beschluss des Gerichts über die Zulassung der Anklage sind geprägt vom Geist des Kalten Krieges. Die Präjudizien zu den Gerichtsentscheidungen gehen auf das Jahr 1964 zurück. Die Welt hat sich seitdem geändert, aber die deutsche Justiz führt politi­sche Prozesse, als regiere noch Wilhelm II. Sie hat die vorübergehende liberale politi­sche »Schwäche«, die sie nach 1968 überfiel, wieder überwunden und ihre alte anti­kommunistische Hochform wiedergewonnen. Uns schalt man »Betonköpfe« und warf uns Reformunfähigkeit vor. – In diesem Prozess wird demonstriert, wo die Betonköpfe herrschen und wer reformunfähig ist. Nach außen ist man zwar äußerst geschmeidig, wird Gorbatschow die Ehrenbürgerschaft von Berlin verliehen, wird gnädig verziehen, dass er einst die sogenannten Mauerschützen durch seinen Eintrag in ihr Ehrenbuch belobigte, aber nach innen ist man »hart wie Kruppstahl«. Den einstigen Verbündeten von Gorbatschow stellt man dagegen vor Gericht. Gorbatschow und ich gehörten beide der kommunistischen Weltbewegung an. Es ist bekannt, dass wir in einigen wesentli­chen Punkten verschiedener Meinung waren.

Doch unsere Differenzen waren aus meiner damaligen Sicht geringer als unsere Gemeinsamkeiten. Mich hat der Bundeskanzler nicht mit Goebbels verglichen, und ich hätte ihm das auch nicht verziehen. Weder für den Bundeskanzler noch für Gor­batschow ist dieses Strafverfahren ein Hindernis für ihre Duzfreundschaft. Auch das ist kennzeichnend. Ich bin am Ende meiner Erklärung. Tun Sie, was Sie nicht lassen können.

 

Aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/1993. (https://www.blaetter.de/ausgabe/1993/januar/persoenliche-erklaerung-von-erich-honecker-vor-dem-berliner-landgericht-am-3dezember-1992-wortlaut)

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