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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Walther Rathenau – Mord mit Folgen

Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf

 

Am 24. Juni 1922 wurde Walter Rathenau, Außenminister des Deutschen Reiches, durch Vertreter der terroristischen Geheimorganisation Consul auf der Berliner Wilhelmstraße ermordet. Er war langjähriger Vorsitzender der AEG, Geschäftsführer der Berliner Handelsgesellschaft, Leiter der Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium, einer der Organisatoren der deutschen Rüstungsindustrie zu Beginn des Ersten Weltkriegs, Mitglied der sogenannten Sozialisierungs- sowie der Friedenskommission, Teilnehmer an mehreren Reparationskonferenzen nach dem Krieg und Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei – ein »lupenreiner« Vertreter der deutschen Großkapitaleigner also. Was war geschehen?

1922 bestimmte noch eine Multipolarität der europäischen (Kolonial-) Großmächte des XIX. Jahrhunderts die internationalen Beziehungen. Das zaristische Russland hatte seine koloniale Expansion weitgehend abgeschlossen und gehörte dazu. Die USA waren nach dem Bürgerkrieg 1861-65 noch mit der Konsolidierung ihres Kolonialreiches entsprechend der Monroe-Doktrin (1823) auf dem amerikanischen Doppelkontinent beschäftigt und fingen erst langsam an, in Europa aktiv zu werden und Russland als seinen Hauptgegner zu erschließen.

Nach seiner ersten Großniederlage seit der Reichsgründung 1871 wurde Deutschland mit dem Versailler Vertrag, den ihm die siegreichen Mächte der Entente aufgezwungen hatten, in seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Souveränität erheblich eingeschränkt. Russland, nunmehr Sowjetrussland, wurde mit einer weitreichenden Invasion durch die ehemaligen Entente-Mächte überzogen und praktisch von West- und Mitteleuropa isoliert.

Es kam also zu einer »Gemengelage«, in der die Interessen Deutschlands (Aufhebung der wirtschaftlichen Knebelung durch Reparationszahlungen und Wiederherstellung der politischen Souveränität) und Russlands (Erhaltung der politischen Souveränität, Einstellung jeglicher Kriegshandlungen sowie Förderung der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit) in Übereinstimmung kamen. Nach langwierigen, ergebnislosen Verhandlungen mit den »Westmächten« unterzeichneten dann Walther Rathenau und Reichskanzler Joseph Wirth (1921-1922, Deutsche Zentrumspartei) mit dem russischen Außenminister, Georgij Tschitscherin, am 16. April 1922 in Rapallo einen Vertrag über die beiderseitige völkerrechtliche Anerkennung, den Verzicht auf gegenseitige Reparationszahlungen sowie Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen nach dem Prinzip der Meistbegünstigung, was Deutschland einen Teil seiner Souveränität wiederbrachte und Russland eine wichtige Voraussetzung für Frieden.

Politik der friedlichen Koexistenz

Mit der Unterzeichnung des Vertrages folgte die Regierung der Weimarer Republik den wirtschaftlichen und politischen Interessen ihres Landes. Das war kein Freundschaftsvertrag, ja nicht einmal ein Friedensvertrag. Es war ein interessenbestimmtes Zweckbündnis, dem 1925 der Moskauer Vertrag quasi als Durchführungsbestimmung folgen sollte. Für die Regierung war die in Sowjetrussland neu entstehende gesellschaftliche Ordnung nachrangig in Bezug auf die eigenen nationalen Interessen. Dieses Herangehen war Voraussetzung und erstmalige Praktizierung einer Außenpolitik der friedlichen Koexistenz, die nach der Katastrophe des faschistischen II. Weltkriegs über 45 Jahre (zumindest verbal) als allseitig anerkanntes Prinzip der internationalen Beziehungen gelten sollte.

Nicht so das Herangehen der rechtsradikalen Kräfte in der Weimarer Republik. Sie machten sich gar nicht erst die Mühe, Rathenau etwa als »Lenin-Versteher« politisch mundtot zu machen. Keine zwei Monate nach Vertragsunterzeichnung schossen sie ihn auf offener Straße tot.

Die Westmächte erkannten ihren »Fehler« und »entschärften« Versailles mit den Locarno-Verträgen von 1925. Mit der Zusage einer möglichen Revision der deutschen Ostgrenzen hinterlegten sie jedoch zugleich einen vergifteten Pfeil, indem sie damit die rechten Kräfte in Deutschland strategisch stärkten. Damit begann die neuerliche aggressive Ostorientierung des Deutschen Reiches. Die Chance einer Neuaufnahme der Bismarckschen interessenbestimmten Balancepolitik in Europa zur weitestgehenden Erhaltung des Friedens war ein weiteres Mal vertan.

Diese Politik bereitete maßgeblich den Boden für den Hitlerfaschismus und 1945 – den Verlust der deutschen Eigenstaatlichkeit. Die darauf folgende internationale Ordnung beruhte auf den Beschlüssen der Siegermächte UdSSR und USA in Jalta und Potsdam, an denen dann auch Großbritannien und Frankreich beteiligt wurden. Auf dem Boden des besetzten Deutschlands entstanden 1949 nacheinander zwei selbständige Staaten, die BRD und die DDR. Europa wurde in zwei militär-politische Blöcke gespalten, wobei der westliche, die NATO, durch die nichteuropäischen USA geführt wurde. Die entstandene internationale Bipolarität zwischen der Sowjetunion und den USA bildete auch die Grundlage für ein neues Völkerrecht, das mittels der Statuten der Vereinten Nationen, der UNO, gemäß den entstandenen Machtverhältnissen kodifiziert wurde.

Dieses bipolare Kräfteverhältnis sicherte 45 Jahre zumindest den Weltfrieden. Es wurde mit der sogenannten Kubakrise noch einmal auf die Probe gestellt, aber es hielt und wirkte bis 1990. Das Prinzip der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung schien sich ein zweites Mal in der Geschichte seit Walther Rathenau durchzusetzen. Zugleich bauten die USA ihre militär-politische Präsenz, insbesondere in der Bundesrepublik, zielstrebig aus. Die NATO war dabei ihr Instrument, »um in Europa zu bleiben«, wie Bill Clinton 1997 bei einem Treffen in Finnland (!) Jelzin gegenüber geäußert haben soll. Das Ziel der USA war und blieb entsprechend der Truman-Doktrin die »Eindämmung« der UdSSR und des »Roll-back«. Die Kriege in Korea, Vietnam und vielen anderen Ländern sprechen Bände. Es half aber auch, die Sowjetunion und ihre Verbündeten von einer politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu isolieren. Die Erkenntnis von Rapallo, dass Frieden in Europa nur durch eine beidseitig vorteilhafte Zusammenarbeit zwischen West- und Osteuropa erzielt und erhalten werden kann, wurde konsequent ausgeblendet. Nur widerwillig ließen die USA dann Willi Brandt und Egon Bahr mit der »neuen Ostpolitik« gewähren, deren Ergebnis des »Wandels durch Annäherung« dann spätestens 1990 nicht mehr in Frage gestellt werden konnte (wenn sie auch nicht die eigentliche Ursache für den Zerfall der Sowjetunion war). Die USA als nichteuropäische Großmacht sabotierten solche Prozesse, wo sie nur konnten.

Der gesellschafts-politische Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/92 war für die weitere internationale Lage epochal. Einer der Pole des internationalen Machtgleichgewichts war scheinbar von der Bildfläche verschwunden. Die USA erklärten das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) und den Beginn einer Ära der »Weltinnenpolitik«, die unter dem Deckmantel der »wertebasierten Ordnung« US-amerikanisches Recht auf den gesamten Globus auszudehnen versucht. Das bis dahin geltende Völkerrecht wurde zunehmend unterlaufen und damit insbesondere im Sicherheitsbereich zu Makulatur bzw. wurde für den Bedarfsfall (siehe Ukraine) in eine ideologische Softpower verwandelt.

Anhängsel der USA

Die USA zogen sich aus ihrem wichtigsten Nachkriegsvorposten, West-Europa, nicht zurück, wie die Sowjetunion ihrerseits aus Osteuropa. Sie verstärkten im Gegenteil ihre militärpolitische Präsenz und dehnten sie unter dem Deckmantel der eigens dafür geschaffenen NATO weiter nach Mitteleuropa aus, vom Baltikum bis ans Schwarze Meer. Der bisherige Höhepunkt war die Schaffung eines neuen politischen Hotspots um die Ukraine, deren militärische Aufrüstung und sukzessive Verwandlung in eine weitere militärische US-Basis (neben ihren vorangegangenen Aktivitäten in Georgien, Armenien, Kasachstan usw.). Begleitet wurde dies, beginnend mit der politischen und wirtschaftlich-sozialen Rekonsolidierung Russlands nach der desaströsen Jelzin-Ära (in der die USA ja auch die Präsidentenwahlen organisieren »durften«), durch eine zunehmend aggressive antirussische Kampagne mit immer stärkeren Wirtschaftssanktionen, dem bevorzugten Instrument nicht-militärischer Kriegsführung der USA.

Die Westeuropäer blieben politisches Anhängsel der USA. Ohne klare Vorstellungen der eigenen internationalen Interessen vertraten und vertreten sie die des Seniorpartners. Die Wiederherstellung ihrer nationalen Souveränität und Eigenständigkeit wurde nicht einmal ansatzweise ins Auge gefasst. Erst vor vier Jahren war es mit Präsident Macron Frankreich, das eine »Autonomie Europas« anstreben wollte und die NATO vor kurzem erst für »hirntot« erklärte. Die Bundesrepublik unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel lehnte den Vorschlag jedoch brüsk ab. Der »Genosse der Bosse« erkannte zumindest die Sinnhaftigkeit des Anliegens im Interesse der Herbeiführung eines europäischen Ausgleichs für Sicherheit und Zusammenarbeit. Das einzig daraus Folgende, nämlich Ramstein mitsamt den A-Waffen zu schließen (de Gaulle hatte seinerzeit ein solches in Frankreich gar nicht erst zugelassen), wagte er sich dann aber doch nicht zu fordern. Russland hat die Europäer über Jahre zu überzeugen versucht, konnte oder wollte dabei jedoch den Hauptopponenten nicht nennen. So verhallten seine Visionen im September 2001 bei höflichem Applaus im Deutschen Bundestag. Dabei liegt es auf der Hand, dass es in einem solchen Fall keinen Stellvertreterkrieg in der Ukraine gäbe. Mehr noch, die Ukraine würde nicht zerrissen, sondern es gäbe wirtschaftspolitische Zusammenarbeit der EU mit Russland und der Ukraine nach den Regeln der Meistbegünstigung, wie es in dem Vertrag durch Walther Rathenau und Georgij Tschitscherin in Rapallo bereits schon einmal für Deutschland und Russland vereinbart worden war. Nun, es kam, wie zu erwarten war: Nach Washington, D.C. ertönte am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag der beschwörende Ruf »Es ist IHR Krieg, Herr Putin!« Und um ganz sicher zu gehen, dass es Deutschland ernst meint und wieder gegen Russland ausgerichtet ist, verkündete der Kanzler gleich eine »Zeitenwende« samt eines in der Geschichte der Bundesrepublik nie dagewesenen Aufrüstungsprogramms und die Außenministerin fordert die »Ruinierung« Russlands. »Mission accomplished«, würde George W. Bush sagen.

Das sind die aktuellen Folgen der geschichtlichen Verdrängung des Mordes an Walther Rathenau. Die nach 1991 erwartete und angestrebte »Friedensdividende« wurde durch Unwissen und Verdrängung der Geschichte verspielt. Die reaktionäre bürgerliche Politik vererbt unseren Kindern eine kriegsgefährdete Welt ohne sichtbare Haltelinien. Die »grüne« Turbo-Energiewende zeigt dabei die realistische Möglichkeit der Wiederherstellung der Selbständigkeit Westeuropas (auf Augenhöhe mit den USA) als Voraussetzung einer gesamteuropäischen bipolaren Politik der Sicherheit und Zusammenarbeit. Wenn dann die USA und China als weitere Pole einer globalen Multilateralität hinzukämen, wäre dies eine Perspektive für den Weltfrieden. Es wäre zugleich der Weg des Zurückdrängens der zunehmenden Mainstream-Akzeptanz neofaschistischer Ideologien. Das Erkennen der wirklichen Ziele des Friedenskampfes in Europa und der Welt ist ein Gebot der Stunde.

 

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