Von der Kriegs- zur Friedensschule. Ein Lebensbericht von Fritz Rathig.
Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf
Fritz Rathig, langjähriger Aktivist für den Frieden, stellvertretender Generalsekretär des Friedensrates der DDR und Sekretär des Weltfriedensrats, wurde wahrlich nicht als Friedenskämpfer geboren, geschweige denn als Kommunist.
Das Leben, der Krieg mit all seinen Grausamkeiten, der menschenverachtende Faschismus, ja der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse haben aus ihm einen lebenslangen Friedenskämpfer gemacht und einen Sozialisten gleich dazu.
In seinen unvollendeten Lebenserinnerungen [1] stellt er sich der Herausforderung, besonders solche Entscheidungen zu beleuchten, die er »aus freien Stücken« getroffen habe, »zu denen es also Alternativen gegeben hätte«, um beim Schreiben zu dem Schluss zu kommen, dass sich »stets wesentliche Veränderungen der objektiven Lage« ergeben hätten, »aus der heraus ›andere Mächte walteten‹ und mich so zu Meinungen oder letztendlich Entscheidungen führten, die nicht meinen ursprünglichen Intentionen entsprachen«. So stellt sich sein Leben als eindrucksvoller Beweis dafür dar, dass wir alle in ganz bestimmte gesellschaftliche und ideelle Verhältnisse hinein sozialisiert werden, dass das materielle und geistige Sein das Bewusstsein der Menschen und deren Handeln maßgeblich bestimmt und entwickelt.
Der junge Fritz, erst fünf Jahre nach dem Ersten Weltkrieg geboren, wurde maßgeblich durch die kolonialen »Heldentaten« des deutschen kaiserlichen Imperialismus in Deutsch-Südwest (Afrika) oder beim Boxeraufstand in Tsingtao (China) geprägt, von denen sein Vater, Verwandte und Bekannte sowie die elterliche Bibliothek zu berichten wussten. Aus dem Großen Krieg kam der Vater wohl ernüchtert zurück. »Sollte ich je einen Sohn haben, der Soldat werden will, dem schlage ich alle Knochen im Leibe kaputt«, soll er gesagt haben. Als es jedoch so weit war, gab es keinen Widerstand seitens der Eltern, fand nicht einmal eine Diskussion statt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse »funktionierten« ja halbwegs wieder. Und die Wirkung der nationalsozialistischen Ideologie war nicht nur auf die Kinder und Jugendlichen groß. Und so wurde der Berufswunsch des jungen Mannes, das Militär, zur erstrebten Wirklichkeit. Nach dem Abitur ging es zur Offiziersschule und als Fahnenjunker direkt in den Krieg. Die Offiziersbewerber sollten bei der Feldtruppe ausgebildet werden. Und so wurde der Krieg selbst zur Schule für Fritz Rathig. In Frankreich begonnen, wurden sie in den »Bereitstellungsraum« am Bug für den Überfall auf die Sowjetunion verlegt. Der Feldzug führte nach Moskau und Leningrad (Aushungern war das Ziel) und die Begegnung mit dem Tod ließ nicht auf sich warten, sondern traf die Eindringlinge mit sich stetig erhöhender Frequenz. Zu besichtigen waren die sadistischen Gräueltaten der SS und der Wehrmacht im überfallenen Land. Propagandistisch aufgeputscht wurden die jungen Deutschen mit »Argumenten«, die von der heutigen bundesdeutschen Außenpolitik bezeichnenderweise fast wortgleich entliehen werden: der »jüdische Bolschewismus [die russische Autokratie] als Hauptgefahr für Europa und die Welt«, … »Historische Aufgabe der deutschen Wehrmacht [robusten Auslandseinsätze der Bundeswehr]« sei es, »den Siegeszug fortzusetzen und damit auch den unterdrückten Völkern Russlands die Freiheit zu bringen«. Der Export der westlichen Werte lässt grüßen. Es ist nicht alles neu, was sich modern geriert.
Es waren wohl diese Wochen, Monate und Jahre, die damals junge Menschen Dinge hinterfragen ließen, den Krieg zu hassen zu lernen, die militaristischen »Heldentaten« als das zu sehen, was sie in Wirklichkeit waren – menschenfeindliche Ausrottungs- und Eroberungskriege. Der späte Eintritt der USA und Englands in den Krieg gegen Hitlerdeutschland, aber - wie erkennbar – nicht auf Seiten der Sowjetunion, und der absehbare Zusammenbruch der bekannten gesellschaftlichen Ordnung taten ihr Übriges. Das Leben hätte nicht härter zuschlagen können. Mit 22 Jahren erlebte Fritz Rathig die Zerstörung seiner Heimat und die Kapitulation Hitlerdeutschlands und seiner Ideologie in US-amerikanischer Gefangenschaft. Die Jugend hatte er im Krieg verloren, außer der Ausbildung als Krieger hatte er keine, die ihm hätte eine einträgliche Lebensperspektive hätte bieten können.
Fritz Rathig wurde zum engagierten Kämpfer für den Frieden. Er suchte Zeit seines Lebens nach den Ursachen des Krieges und sollte sie ganz wesentlich in den sozial-ökonomischen Verhältnissen finden. Die faschistische Ideologie war keineswegs völlig überwunden, aber er entschloss sich, nach »Deutsch-Nordost«, in die DDR zu gehen, weil er dort zumindest den Versuch erstehen sah, eine neue Gesellschaft ohne Krieg und Völkermord zu errichten, in der für Militarismus und Standesordnung kein Raum bleiben sollte. Er wurde in vielen geistigen und ideologischen Auseinandersetzungen zum Mitorganisator einer Friedensbewegung, die über ideologische Grenzen hinweg zusammenwirkte und bestrebt war, den Anti-Kriegs-Gedanken dem Bewusstsein möglichst vieler Menschen nahezubringen und sie für den Friedenskampf zu mobilisieren. Er setzte sich für den Frieden ein, »und das mit allen gemeinsam«. Neben den sozial-ökonomischen Voraussetzungen für den Frieden bewegte ihn, erst recht unter den Bedingungen des Fortbestehens des kapitalistischen Militarismus, auch die subjektive Frage: »Wie erfährt der Mensch sein wie immer auch motiviertes Bekenntnis zum Frieden als Auftrag zu einer gesellschaftlich relevanten Tat, die ihn zu einer als unerlässlich erkannten persönlichen Erkenntnis führt, dabei aber gleichzeitig seine Erkenntnisse wachsen lässt, er müsse den Schritt gemeinsam mit anderen tun, die meist andere Vorstellungen von der Welt haben als er selbst.« Diese Frage erwuchs aus der Erfahrung, dass der Kampf gegen Krieg, Faschismus und Militarismus durch Menschen unterschiedlicher gesellschafts-politischer Auffassungen geführt werden kann und muss. Nur vereint, nicht gespalten, kann eine kraftvolle Bewegung für den Frieden entstehen. Eine Frage, die ihn bis zu seinem letzten Tag begleiten sollte. Dieses Herangehen leitete ihn in den Jahren der Führung der Zentralschule des deutschen Friedensrates, die er, sollte sie in diesem Sinne Erfolg haben, als »Stätte der Begegnung« verstanden wissen wollte.
Es waren die bitteren Erfahrungen des 2. Weltkrieges, einschließlich der »Aufarbeitung« der eigenen Beteiligung am durch die Westmächte geduldeten, mit-inspirierten Überfall auf die Sowjetunion, sowie zweifelsohne das Zusammentreffen mit Kommunisten und Demokraten, die Fritz Rathig zur Erkenntnis verhalfen, dass eine antifaschistisch-demokratische, eine sozialistische Ordnung zur Kernkraft für den Frieden werden könnte. So engagierte er sich Zeit seines Lebens in der DDR als Aktivist der ersten Stunde für deren Stärkung. Dabei erhielt er sich stets die Fähigkeit, Dinge erneut zu hinterfragen, besonders in Zeiten von Zuspitzungen des innen- und außenpolitischen Kampfes, ob das die Arbeitsnormproteste 1953 waren oder der XX. Parteitag der KPdSU, die Ereignisse 1956 in Ungarn, 1968 in der CSSR oder 1981 – 83 in Polen, das Neue Ökonomische System in der DDR 1963 oder der Bau der Berliner »Mauer« 1961.
Zwei Fragen schienen Fritz Rathig auf seinem Lebensweg immer wieder besonders bewegt zu haben. Zum einen war dies das Vertrauen der führenden politischen Partei in die eigenen Mitglieder, aber auch die Bürger des Landes überhaupt. Was hätte er persönlich noch tun müssen, als seine ganze Kraft und die seiner Familie dem sozialistischen Aufbau zu widmen, um dieses Vertrauen zu erringen, das ihm nach seinem Empfinden (offensichtlich aufgrund der US-amerikanischen Gefangenschaft) zumindest teilweise verwehrt blieb. Aber auch das fortgesetzte Schweigen der Parteiführung nach dem XX. Parteitag der KPdSU gegenüber den Parteimitgliedern empfand er als fehlendes Vertrauen; ganz besonders jedoch die per Parteibeschluss 1962 erfolgte de facto »Abschaffung« der basisorientierten Friedenskomitees zugunsten eines durch das ZK geführten Repräsentationsgremiums der Parteien und Massenorganisationen, was im Übrigen auch die politische Zusammenarbeit mit ausländischen Friedensbewegungen sehr erschwerte.
Zum anderen fiel ihm immer wieder auf, dass den nachfolgenden Generationen das aus eigenen Erfahrungen resultierende Bewusstsein immer schwerer zu vermitteln war. »Es fehlte irgendein tiefwirkendes Grunderlebnis bei unseren jungen Leuten. Der Zündstein in ihren Herzen fehlte, der – so man ihn anschlug – vom Funken zur Flamme wurde. Ich bekenne, dass in mir das Grunderlebnis Krieg-Frieden, Soldat-Kampf für Frieden und Gerechtigkeit immer virulent blieb.« Die den Aktivisten der ersten Stunde folgenden Generationen konnten diese gesellschaftlichen Erfahrungen nicht haben. Sie hatten neue, andere! – Ein Eindruck, den der Autor dieser Zeilen aus der eigenen Jugendarbeit nur bestätigen kann und muss!
Zum Ende seines Lebens musste Fritz Rathig dann die zweite Lebenskatastrophe erleben, den innerhalb weniger Wochen erfolgten Zusammenbruch der so hoffnungsvollen Gesellschaft, an deren Errichtung (!) er 40 Jahre aktiv mitgewirkt hatte. Er konnte dies nicht anders als eine Konterrevolution erleben.
Doch hatte er zuvor schon, wie aus seinem spannenden, zukunftweisenden, aber leider unvollendeten Lebensbericht ersichtlich, eine Vielzahl wichtiger, die Gestaltung der neuen Ordnung betreffende Fragen gestellt. Vorwärtsweisende, fortschrittliche Antworten zu finden, sollte uns Herausforderung sein, für unsere Kinder und Enkelkinder, die die künftigen Herausforderungen überleben sollen!
Anmerkung:
[1] Fritz Rathig: »Von Deutsch-Südwest nach Deutsch-Nordost« Ein Lebensbericht. Nora, 1. Auflage, 2020, 492 Seiten, ISBN: 978-3865574923, Gebunden: 28,00 €.
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