Lücken in der linken Russlanddebatte
Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel
»Wir erkennen an, dass in der neuen europäischen Ordnung die Sicherheit jedes Staates untrennbar mit den Sicherheiten seiner Nachbarn verbunden ist«, ließ die NATO im Jahr 1990 in ihrer Londoner Erklärung verlauten. Spätestens mit der Aufnahme der ersten osteuropäischen Staaten in das Bündnis wurde von dem Prinzip der interdependenten Sicherheit kontinuierlich Abstand genommen. Als die Mitgliedstaaten der NATO um die vormals sowjetischen Teilrepubliken des Baltikums erweitert wurden, begann eine Serie an Konfrontationen entlang der russischen Grenze.
Trotz dieses widersprüchlichen Verhaltens der NATO erscheinen Aussagen wie die in der Londoner Erklärung im öffentlichen Diskurs nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Die Rolle der NATO seit 1990 wird verschwiegen oder verklärt dargestellt. Viel zu häufig bleiben Un- und Teilwahrheiten unerwidert im Raum stehen. Dabei können insbesondere völkerrechtliche Einordnungen dazu dienen, allzu willfährige Wahrheiten zu entkräften.
A. Keinen Zoll ostwärts
Am 31. Januar 1990 erklärte Hans-Dietrich Genscher im bayrischen Tutzing, dass die deutsche Wiedervereinigung zu keiner Verletzung sowjetischer Interessen führen dürfe. Dass diese Aussage kein Versehen war, zeigte der Besuch des US-Außenministers 10 Tage später bei dem sowjetischen Staatschef Michael Gorbatschow. Dort wurde der noch existierenden UdSSR versprochen, dass die NATO keinen Zoll ostwärts ausgeweitet werden würde.
In der von der George-Washington-Universität im Jahr 2017 veröffentlichten Studie »NATO Expansion: What Gorbachev Heard« wird anschaulich dargestellt, dass zwischen 1990 und 1991 sämtliche westliche Staatsoberhäupter und hohe Diplomaten der Sowjetunion Sicherheitsgarantien in Bezug auf eine NATO-Erweiterung gaben. Darunter zählten sowohl Bush senior als auch der damalige NATO-Generalsekretär Wörner, welche Gorbatschow persönlich entsprechende Zusagen machten.
B. Völkerrechtliche Einordnung
Trotz dieser im Internet frei zugänglichen Informationen fehlen ihre Verweise in der veröffentlichten Meinung in Gänze. Insbesondere wird auf die völkerrechtliche Irrelevanz bzw. auf einen völkerrechtswidrigen Charakter möglicher NATO-UdSSR-Absprachen verwiesen.
1. Russische Sicherheitsgarantien wurden vertraglich nicht niedergelegt –
Das völkerrechtliche Schriftformbedürfnis
Hinsichtlich der Argumentation, dass die Sicherheitsversprechen nicht vertraglich erfolgten, muss bereits eine Relativierung vorgenommen werden. Es liegt eine Unmenge an deklassifizierten Briefen, Protokollen und sonstigen Dokumenten von westlichen Diplomaten und Vertretern vor, in denen verschriftlicht dargelegt wurde, dass der Preis der deutschen Vereinigung die Anerkennung von sowjetischen Sicherheitsinteressen sein müsste.
Der Fakt, dass diesbezüglich kein schriftliches Abschlussdokument aufgesetzt wurde, ist aus völkerrechtlicher Sicht zu vernachlässigen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) urteilte im Nuclear Test Fall im Jahr 1974, dass das Völkervertragsrecht keine Formanforderungen für den internationalen Rechtsverkehr voraussetzt. Somit besteht hinsichtlich der Form, ob mündlich oder schriftlich, weder ein rechtlicher Vor- noch Nachteil. Ebenso argumentiert die International Law Commission der UNO, die den rechtswirksamen mündlichen Abschluss von Völkerrechtsverträgen akzeptiert.
2. Politische Absichtserklärungen sind völkerrechtlich nicht verbindlich?
Wenngleich die Schriftform vernachlässigungswürdig ist, kann eingewendet werden, dass die westlichen Staaten in Bezug auf ihre Aussagen keinen Rechtsbindungswillen hatten. Kurzum: Die damaligen Zusagen waren reine politische Absichtserklärungen.
Grundsätzlich begründen politische Absichtserklärungen keinen Rechtsbindungswillen.
Anders verhält es sich im Zusammenhang mit den Sicherheitsgarantien an die UdSSR. Der UdSSR wurde durch eine Vielzahl von unterschiedlichen staatlichen Repräsentanten und Diplomaten der Verzicht auf die Osterweiterung der NATO versprochen. Diese Versprechen erfolgten wiederholt über einen nicht unerheblichen Zeitraum (1990-91).
Am bemerkenswertesten erscheint die oben erwähnte »Tutzinger Formulierung«, welche Diskussionsgrundlage zwischen der NATO und der UdSSR wurde. Mit dem Sonderstatus des Territoriums der DDR in Bezug auf Atomwaffenfreiheit (Art. 5 Abs. 3 2-plus-4-Vertrag) wurde den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion in Bezug auf Deutschland Rechnung getragen. Die Dauer und Intensität des diplomatischen Agierens und des 2-plus-4-Vertrages lassen einen Rechtsbindungswillen zugunsten sowjetischer Sicherheitsinteressen vertretbar erscheinen.
Hinsichtlich des rechtsverbindlichen Erstarkens von politischen Absichtserklärungen setzte der IGH in den Fällen von Seerechtsstreitigkeit zwischen Katar und Bahrain neue Maßstäbe. Dieser stellte fest, dass ein Konglomerat von Botschaftsnoten, Stellungnahmen und Absprachen zusammengezogen völkerrechtliche Berücksichtigung finden können.
Im Völkerrecht kommt es auf den übereinstimmenden Parteiwillen an, welcher Voraussetzung für den Vertragsschluss und die Vertragsinterpretation ist. Hierbei ist der Parteiwille zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgeblich. Im konkreten Fall waren die NATO-Mitgliedsstaaten einhellig der Überzeugung, dass eine deutsche Einheit ohne sowjetische Truppen nur unter Wahrung der Sicherheit der UdSSR, mithin ohne NATO-Osterweiterung, gelingen wird.
3. Verträge zulasten Dritter
Es wird behauptet, dass die NATO mit der UdSSR gar keine vertragliche Regelung zur Verhinderung der Osterweiterung hätten schließen können. Grundsätzlich dürfen Vertragsinhalte nicht zum Nachteil von Drittstaaten vereinbart werden. Jedoch ist diese Argumentation irreführend: Im Umkehrschluss wäre die NATO verpflichtet, sämtliche interessierte osteuropäische Staaten aufzunehmen. Dieses erscheint nicht statthaft. Jeder internationalen Organisation steht es offen, aufgrund territorialer Kriterien Mitglieder auszuwählen. Auch die NATO hat das immer so gehandhabt. Nach Art. 10 NATO-Vertrag ist der Kreis der Bewerber auf Europa beschränkt. Ab 1990 hätte die NATO sowjetische Sicherheitsinteressen wahren können, indem eine Mitgliedschaft auf Staaten westlich der Oder-Neiße-Grenze beschränkt worden wäre.
4. Relative Bündniswahlfreiheit
Die Bündniswahlfreiheit ist ein aus der Souveränität abgeleitetes Prinzip und genießt im europäischen Raum eine besondere Wichtigkeit. In der KSZE-Akte niedergelegt, ist die Bezugnahme auf die Bündniswahlfreiheit im Zusammenhang einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine weniger klar als behauptet.
So ist die Mehrzahl der KSZE/OSZE-Dokumente völkerrechtlich unverbindlich. Sie sind, wie die OSZE selbst, politische Übereinkünfte ohne klare Einbettung in den internationalen Rechtverkehr. Die Bündniswahlfreiheit wird den OSZE-Mitgliedern auch nicht uneingeschränkt, absolut zugebilligt. In der OSZE-Gedenkerklärung von Astana (2010) heißt es in Bezug auf die Bündniswahlfreiheit: »[Die Staaten] werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen.«
Ähnlich wie die Londoner Erklärung von 1990 lehnt die OSZE die einseitige Ausweitung eines Militärbündnisses ab. Schlussendlich bleibt ein Grundprinzip der OSZE: »Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden.«
C. Zusammenfassung
Dreißig Jahre nach Tutzing muss festgehalten werden, dass die NATO sehr wohl sowjetische Interessen wahren wollte. Dennoch ist ein anderer Teil der Wahrheit, dass das Verhalten Russlands im Zusammenhang der 1. NATO-Osterweiterung aus heutiger Sicht widersprüchlich und rechtlich nachteilig war. Dadurch sind die einstigen Sicherheitsgarantien, wie darlegt, nicht irrelevant geworden. Dem Westen sind diese Aussagen als völkerrechtlicher Parteiwille zuzurechnen. In Anbetracht der momentanen Diskussionen wäre es ratsam, die Dokumente der George-Washington-Universität gründlich zu studieren. Sie zeigen das Bild einer Weltmacht und eines sogenannten Verteidigungsbündnisses, die der Sicherheit Europas den gleichen Stellenwert zukommen ließ, wie man es bei einer alten Kuh während eines ordinären Kuhhandels täte.
10. Februar 2022
Der Beitrag konnte nicht die Ereignisse seit dem 21. Februar 2022 berücksichtigen.
Es sei aber erwähnt, dass in der jetzigen Situation den Worten des chinesischen UN-Botschafters, Zhang Jun, vor dem Sicherheitsrat nichts hinzuzufügen ist: »Die momentane Situation in der Ukraine ist das Ergebnis einer Vielzahl komplexer Faktoren. […] Wir glauben, dass alle Staaten internationale Konflikte unter Maßgabe der Ziele und Prinzipen der UN-Charta mit friedlichen Mitteln lösen müssen.«
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