»Keine Atomraketen in Europa!«
Dr. Hartmut König, Panketal
Die Krefelder Initiative und ein Appell der Künstler 1981 in Dortmund
Immer wieder habe ich sie in den Händen gehalten, und ich spiele sie noch heute: die Doppel-LP mit der weißen Taube auf himmelblauem Grund. Vorn die Losung »Der Atomtod bedroht uns alle – keine Atomraketen in Europa!« Auf der Rückseite die Signaturen bedeutender Künstler, die den Krefelder Appell gegen ein nukleares Wettrüsten unterstützten. Es ist der Live-Mitschnitt von der Abschlussveranstaltung des 2. Forums dieser Initiative, die am 21. November 1981 in der Dortmunder Westfalenhalle über die Bühne ging. Sooft ich die Platten auflegte und die beigegebenen Texte nachlas, war ich überwältigt, welche große gesellschaftliche Resonanz die Mahnung doch so unterschiedlich arbeitender Künstler erreichen konnte, weil sie in dieser Überlebensfrage der Menschheit ihre Stimmen vereinten. Gerade die Diversität ihres sonstigen Schaffens machte ihren Aufruf so vielfarbig und wirkmächtig. Vier Jahrzehnte später fragt die Erinnerung etwas ernüchtert, aber nicht ohne Hoffnung, wie um alles in der Welt die Friedenspfeife der Völker und Nationen wieder mit so starkem Tobak gefüllt werden kann. Denn ein neuer Kalter Krieg hat begonnen. Der Sicherheitsarchitektur aus vernünftigerer Zeit droht die vollständige Bestattung. Die Lage ist wieder explosiv.
Vier Millionen Unterzeichner
Der Krefelder Appell war das Resümee eines im November 1980 abgehaltenen Forums, zu dem prominente Vertreter der westdeutschen Friedensbewegung eingeladen hatten. Darunter Aktive der Bewegung »Kampf dem Atomtod« aus den fünfziger Jahren wie Prof. Karl Bechert, Pastor Martin Niemöller, Prof. Helmut Ridder und Gösta von Uexküll, zudem Petra Kelly, Gert Bastian und Christoph Strässer als Exponenten aus jüngerer Zeit. Das Forum hatte mit etwa 1.500 Teilnehmern aus verschiedenen nichtparlamentarischen Gruppierungen eine erfreulich breite Resonanz. Der dort beschlossene Appell, ausgearbeitet von Josef Weber (Deutsche Friedensunion) und dem Ex-Bundeswehrgeneral Gert Bastian, forderte die Regierung der Bundespublik Deutschland auf, »die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen« sowie »in der NATO künftig eine Haltung einzunehmen, die unser Land nicht länger dem Verdacht aussetzt, Wegbereiter eines neuen, vor allem die Europäer gefährdenden nuklearen Wettrüstens sein zu wollen«.
Nach einem halben Jahr hatten 800.000 Bundesbürger den Appell unterschrieben. 1983 waren es bereits vier Millionen. Versuche, die Krefelder Initiative als DKP-initiierten Kotau »nützlicher Idioten« vor dem Kreml und der SED zu denunzieren – in die sich auch sozialdemokratische und gewerkschaftliche Kreise einbinden ließen – verfingen kaum. Der Appell vom November 1980 erwies sich als konsensfähig und geeignet, die Diskussion auf ein wichtiges Ziel der breit aufgestellten Friedensbewegung zu fokussieren: »Abrüstung ist wichtiger als Abschreckung!« Das machten sich auch die Künstler zu eigen, die ein Jahr später die Dortmunder Bühne betraten, um den Krefelder Appell zu bekräftigen.
Von Dortmund bis Hamburg
Die Liste der Mitwirkenden führte viele große Namen der progressiven westeuropäischen Künstlerwelt, und was vorgetragen wurde, blieb zumeist als Brücke zu eigenen Gedanken und Empfindungen bis heute in Erinnerung: Bots singt »Europa hatte zweimal Krieg, / der dritte wird der letzte sein / gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei / das weiche Wasser bricht den Stein.« Udo Lindenberg fragt »Wozu sind Kriege da?« Klaus Hoffmann beschwört »Mit der Angst zu leben, reicht nicht aus.« André Heller spürt »Vom Schrei nach dem Frieden ist hier die Luft ganz schwer.« Esther Bejarano betrauert das »Kelbl« (das Kälbchen, das lieber ein Vogel hätte sein sollen, denn wer Flügel hat und in Freiheit fliegt, ist niemandes Knecht) und singt an der Seite von Eva Mattes das Lied aus dem Warschauer Getto »Sag nie, du gehst den letzten Weg«. Franz Josef Degenhardt persifliert revanchistischen Zeitgeist: »Es denken die Leute von gestern wieder an morgen«. Dietmar Schönherr klagt über die Obszönität der Behauptung, dass ein atomarer Krieg denkbar sei, und schämt sich für deren Urheber: »Mich verbindet mit Ronald Reagan eine peinliche Gemeinsamkeit, wir sind beide Schauspieler.«
Dieter Süverkrüp hält dem Herrgott eine Standpauke: »Aber am 18. Tag schuf Gott / Sei es im Zorn, sei es aus Nachlässigkeit / den Kapitalismus / und wurde daraus ein Staatsunwesen /… Scheißend Napalm und Bomben /… Und frisst von den Völkern die Saat und die Ernte …/ Er aber fühlt seine Krankheit / Und schlägt mit doppelter Pranke …« Erika Pluhar mahnt: »Wer jetzt noch glaubt, er käm mit heiler Haut davon, / ist schon tot.« Hannes Wader besingt die Schönheit des Traums von geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen: »Leben einzeln und frei / wie ein Baum und dabei / brüderlich wie ein Wald / diese Sehnsucht ist alt / sie gibt uns Halt / in unserem Kampf / gegen die Dummheit, den Hass, die Gewalt / ihr Gefährten im Zorn / ihr Gefährten im Streit / mit uns kämpft die Vernunft und die Zeit.«
Harry Belafonte entbietet einen musikalischen Gruß des anderen Amerika, das aufstöhne, weil es gerade einen Teufel zum Präsidenten habe. Dem müsse man ins Gesicht sagen: »Hau ab, du wirst hier nicht gebraucht!« Dann stimmen alle Pete Seegers »Sag mir, wo die Blumen sind« an und resümieren: »Angst um die Kunst haben unsere staatlichen Behörden, denn sie treffen Vorbereitungen, wie man die ewigen Kunstwerke aus den Museen atomsicher versenken kann. Wir Künstler haben Angst um das irdische Leben. Kunst soll den Atomschlag überleben. Ans Überleben der Menschen ist weniger gedacht. Aber Kunst wird für die Menschen gemacht, und die größte Kunst auf dieser Welt ist der Frieden.«
Dem künstlerischen Manifest von Dortmund folgten Veranstaltungen in weiteren Städten. So in Westberlin (»Aufstehen und widersetzen!«, Waldbühne im Mai 1982), in Bochum (»Künstler für den Frieden«, Ruhrstadion im September 1982) und in Hamburg (»Sag nein! Künstler für den Frieden« im September 1983). Die Liste der mitwirkenden Künstler erweiterte sich um bekannte Namen: Joan Baez, Maria Farantouri, Miriam Makeba, Gisela May, Gianna Nannini, Hannes Hüsch, Peter Rühmkorf und Konstantin Wecker sowie um Gruppen wie Il Contemporaneo, Liederjan und Puebla. Wie schon der Auftakt in Dortmund standen diese Follow-ups in der Tradition der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981, auf der Heinrich Böll zu Hunderttausenden Teilnehmern sprach.
Was wir uns abguckten
Inhalte wie Präsentationsform der Veranstaltungen seit Dortmund faszinierten uns Kulturleute im FDJ-Apparat nachhaltig. Ihrer kommunikativen Gestaltung entsprach zwar auch die Atmosphäre bei den von der FDJ mitveranstalteten Festivals des politischen Liedes, aber das weite Spektrum der zusammengeführten politischen Kunst, auch die Open-Air-Erfahrungen bei solchen Kulturevents brachten uns neue Anregungen. Schon früher hatten wir bei linken Jugendverbänden Westeuropas die Attraktivität unter freiem Himmel veranstalteter Programme gespürt, die bei uns lange außen vor waren. Auf der 1982er FDJ-Kulturkonferenz regten wir nun an, solche Veranstaltungsformen auch bei uns zu fördern. Der Liedersommer in der Berlin-Lichtenberger Parkaue, eine Ergänzung zum jährlichen Songfestival im Februar, vor allem die späteren großen internationalen Rockkonzerte im Treptower Park und an der Weißenseer Rennbahnstraße mit Bob Dylan, Joe Cocker, Bruce Springsteen, Bryan Adams, James Brown sowie namhaften Künstlern beider deutscher Staaten und dreier Kontinente waren die Folge. Auch die seit 1982 stattfindende DDR-Reihe »Rock für den Frieden« sowie die Friedenskundgebungen der Jugend auf dem Berliner Bebelplatz, wo der Karat-Titel »Der blaue Planet« uraufgeführt wurde, hatten Impulse aus der Veranstaltungsreihe »Künstler für den Frieden« erhalten. Gleichfalls die Open-Airs zum »FDJ-Treff Rosa-Luxemburg-Platz« anlässlich der 750-Jahrfeier der DDR-Hauptstadt, als Mikis Theodorakis bei seinem unvergesslichen Konzert vor Tausenden Zuschauern sang und tanzte.
Selbst der Auftritt Udo Lindenbergs am 25. Oktober 1983 im Palast der Republik ging – zumindest indirekt – auf seine Mitwirkung in der Westfalenhalle zurück, wo er mit seinem Song »Wozu sind Kriege da?« beeindruckt hatte. In unter die Haut gehenden Versen lässt er ein Kind fragen: »Herr Präsident, ich bin jetzt zehn Jahre alt / und ich fürchte mich in diesem Atomraketenwald. / Sag mir die Wahrheit, sag mir das jetzt, / warum wird mein Leben aufs Spiel gesetzt?« Diese Zeilen waren im Gedächtnis, als ihn die »Junge Welt« im April 1982 um ein Interview bat. Darin schlug Udo Lindenberg bemerkenswerte Töne an, verspottete die Bonner »Politkontrollettis« und nahm die geschürte Angst vor den bösen Roten aufs Korn. Auf dieses Interview verwies er dann auch in jenem Brief an Erich Honecker, in dem er einen Auftritt in der DDR vorschlug. Seine Mitwirkung beim internationalen Friedensprogramm der FDJ im Palast der Republik wurde zu einer vielbeachteten Fußnote in der Geschichte des Verhältnisses beider deutscher Staaten. Die erwünschte anschließende Tournee bekam er leider nicht, dafür eine schöne Schalmei samt Begleitbrief seines Brieffreundes Erich Honecker.
Viel ist passiert in den Jahrzehnten seither. Die sozialistische Gemeinschaft ist von der europäischen Landkarte getilgt. Die westlichen »Werte-Mächte« fühlen sich in ihrem Siegestaumel an die Sicherheitsvorkehrungen der alten, bipolaren Welt nicht mehr gebunden. Hochrüstung und Kriegspläne, darin atomare Optionen, sollen Mächte wie Russland und China, die sich nicht unterordnen, im Zaum halten und ein freies, gleichberechtigtes Miteinander der Völker in der multipolar gewordenen Welt vereiteln. Da ist Widerstand dringlicher denn je, und die alten Bilder der Friedensbewegung fliegen an uns vorbei wie liebe Erinnerungen. Aber lesen wir sie vor allem als Appell! »Wir sind schon viele, doch der Frieden braucht mehr« – der alte Oktoberklubsong ist bedrückend aktuell. Lasst uns stärker werden, und vertrauen wir dabei auch auf die Kräfte der Kunst!
Neu erschienen von Hartmut König: »Ein bildhübscher Schneider in Crossen: Limericks aus tausendundeiner Sitzung«. Verlag am Park, 1. Auflage, 2021, 140 Seiten, illustriert, ISBN: 978-3897933231, 10,00 €.
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