Die Welt in Liedern
Dr. Hartmut König, Panketal
Vor 50 Jahren betrat das Berliner Festival des politischen Liedes die Bühne
Vom 15. bis 21. Februar 1970 fand in der DDR-Hauptstadt das 1. Festival des politischen Liedes statt. Die Zeit ist gerannt wie toll! Vorerst leider in die Irre, schaut man auf die globalen Miseren der Gegenwart und erinnert sich dabei an die hoffnungsvollen Weltläufe zu Festivalzeiten. Bei Abruf sind sie noch immer parat: die gestochenen Bilder von der zwei Jahrzehnte währenden Festivaltradition. Trifft man heute auf Leute, die vor, auf oder hinter der Bühne beteiligt waren, so sprechen sie von einem Stück nie verlorener guter Lebenszeit. Die Geschichte dieses Festivals steht eindrucksvoll in den kulturellen Annalen der DDR. Einerseits, weil das Berliner Treffen bald schon als wichtiges, manche meinten: das wichtigste Podium der progressiven Musikwelt wahrgenommen wurde. Es führte Lieder und andere Musikschöpfungen, die die internationalen Entwicklungen mit ihrem damals unverkennbar linken Richtungssinn begleiteten, auf kommunikative Weise vor einem großen, engagierten Publikum zusammen. Zugleich war es auch der Premierenanlass für viele Lieder der Singebewegung, die manchmal bis heute nachklingen. Nicht zuletzt die Ohrwürmer des neben der FDJ mitveranstaltenden Oktoberklubs, der jedes Jahr auf ein neues, aktuelles Programm hinarbeitete. Die Ideenwelt des Festivals schärfte bei Mitgestaltern wie Besuchern neben ästhetischen Maßstäben das Bewusstsein aufrechter Solidarität und politischer Verbundenheit mit den um ihre nationale und soziale Freiheit kämpfenden Völkern. Das war lebensprägend für uns alle. Es gab eine große Sehnsucht, sich in der Weite dieses linken Einverständnisses aufgehoben zu fühlen.
Aus Geburtstagsfeiern wurde ein Festival
Zu keiner Zeit war der Oktoberklub dem Feiern abgeneigt. Wenn er Geburtstag hatte, lud er sich Lieder-Gäste ein. Anfangs war deren Zahl klein und kam von gleich nebenan. Zu »2 Jahre Oktoberklub« standen die Budapester »Gerilla«-Formation und Thomas Natschinski mit seiner Gruppe als Gratulanten auf der Bühne. Ein Jahr später schauten Gäste aus Polen, Ungarn, Spanien und Westdeutschland vorbei. In den Endsechzigern stellte sich der Oktoberklub erstmals Zukunftsfragen. Die schnell gewachsene Popularität ließ Befürchtungen aufkommen, man könnte inhaltlich wie organisatorisch stagnieren. Ein Ruck sollte her, und so entstand die Idee, im Veranstaltungskalender der DDR einen neuen inhaltlichen Punkt zu setzen: ein alljährliches internationales Festival des politischen Liedes. Dessen Organisation würde zweifellos auch dem Zusammenhalt des Klubs guttun. Die künftigen Dimensionen dieser »Ruck-Idee« waren allerdings nicht zu erahnen.
Nach einem denkwürdigen Anlass für den Auftakt musste man 1970 nicht lange suchen. Lenin wurde 100. Da war »Vorwärts die Zeit!« – dem »Zeit-Marsch« von Majakowski und Eisler entnommen – eine passende Parole. Ich erinnere mich, wie uns die italienische Gruppe »Il Contemporaneo« das Gewerkschaftslied »La Lega« ins Ohr setzte, das wegen seines musikalischen Drives bald mehrsprachig nachgesungen wurde. Oder wie Gisela May nach Programmen von Andert, Demmler und mir meinte, die Singebewegung habe ihre politische Aktualität und Verständlichkeit bei den »Großen« gelernt, mit denen sie Tucholsky, Brecht und Eisler meinte. Das war viel Lorbeer für den Anfang, aber die große Interpretin, die auch Pädagogin war, kannte die Kraft von Ermutigungen.
Das Festival setzte auf Haltungen hinter den Tönen. Wo es an artifizieller Brillanz fehlte, konnten Entstehungsgeschichte und Authentizität der politischen oder sozialen Botschaft ein Lied durchaus zum Leuchten bringen. Doch erlebten wir schon zum 2. Festival bei den Auftritten von »Quilapayún«, Isabel Parra oder der finnischen Gruppe Agit-Prop um Kaj Chydenius – und später bei vielen Künstlern mehr –, dass gerade die Symbiose von Haltung und künstlerischer Gestaltungskraft jene populären Wirkungen erzeugt, die Songs den Weg ins Langzeitgedächtnis ebnen.
Ideelles Andocken an die Kämpfe der Zeit
Lieder, die den Weg nach Berlin fanden, hatten an die nationalen wie die globalen Kämpfe der Zeit angedockt und bezogen linkerseits einen Standpunkt. Unser Bewusstsein von den Siegen und Niederlagen erhielt mit ihnen einen Klang. Besonders eindrucksvoll war die sommerliche Spezialausgabe »PLX« (pe-el-iks), die zu den X. Weltfestspielen in Berlin über 100 Gruppen und Solisten aus 45 Ländern und fünf Kontinenten zusammenführte. Sie fanden Hunderttausende Zuschauer an den Veranstaltungsorten, auf den Straßen und Plätzen. Reinhold Andert und ich hatten unseren Festivalsong »Wir sind überall auf der Erde!« genannt. Das war in Berlin zum Greifen nah. Was für ein beglückendes Gefühl, mit Gleichgesinnten aus allen Ecken der Welt gemeinsam zu kämpfen und zu singen! Damals zum Beispiel mit den »Intis« vom Sieg der Unidad Popular in Chile. Nur Wochen später kamen die Nachrichten von Pinochets blutigem Putsch und vom Tod Salvador Allendes. Dass »Inti Illimani« und »Quilapayún« zu jener Zeit in Europa gastierten, bewahrte sie vor dem Schicksal Victor Járas, der im Zentralstadion von Santiago ermordet wurde.
Noch so viel mehr klang in den Liedern der Festivals. Der sandinistische Sieg in Nikaragua bei den Gebrüdern Godoy, die Sehnsucht Lateinamerikas nach nationaler Selbstbestimmung, indigener Würde und Befreiung von der Rolle als Hinterhof der USA bei Mercedes Sosa, Atahualpa Yupanqui, Léon Giecho oder den Gebrüdern Viglietti. Der revolutionäre Stolz Kubas bei Pablo Milanés, Silvio Rodriguez oder der Gruppe Manguaré. Der Triumpf der portugiesischen Nelkenrevolution bei José Afonso. Die Solidarität mit den Kämpfern gegen die südafrikanische Apartheid bei Miriam und Bongi Makeba oder Abdullah Ibrahim. Die Niederlage der amerikanischen Aggressoren in Vietnam (»Alle auf die Straße, rot ist der Mai. Alle auf die Straße, Saigon ist frei!«). Dann die Songs aus dem Alltag der kapitalistischen Länder Westeuropas und Nordamerikas, über Streiks, Aktionen gegen Wettrüsten und Krieg, soziales Elend, Arbeitslosigkeit und Bildungsmiseren (von Billy Bragg, Eric Bogle, bots, Fria Proteatern sowie von unseren westdeutschen Sängerfreunden Franz Josef Degenhardt, Fasia Jansen, Dietrich Kittner, Dieter Süverkrüp oder Hannes Wader). Proletarische und antifaschistische Traditionen lebten in Vorträgen von Ernst Busch und Konstantin Simonow, von Gisela May, Esther Bejarano, Lin Jaldati oder Aleksander Kulisiewicz. Die delegierten Gruppen aus den europäischen sozialistischen Bruderländern waren mehrheitlich noch auf der Suche nach wirklichkeitsnahen Songthemen, während Shanna Bitschewskaja aus der Sowjetunion oder Katarzyna Gärtner, Maryla Rodowicz und Czesław Niemen aus der Volksrepublik Polen dicht an ihren Realitäten blieben. Mit der Zeit weitete sich bei den Veranstaltern die Begriffswelt des Politischen, so dass auch Künstler wie Herman van Veen, Heinz Rudolf Kunze, Ina Deter, die »1. Allgemeine Verunsicherung« oder »El Teatro del Arte Flamenco« umjubelte Gäste waren.
An zwei Höhepunkte der Festivalgeschichte erinnere ich mich besonders gern. Zum einen an den Auftritt von Pete Seeger im Februar 1986. Fast zwei Jahrzehnte nach seinem ersten DDR-Programm in der alten Sporthalle an der Karl-Marx-Allee rief Pete mit einer Hootenanny vom Feinsten all das in Erinnerung, was die amerikanischen Folk- und Protestsongs einst der Singebewegung und dem von ihr kreierten Festival in die Wiege gelegt hatten. Der zweite war die denkwürdige Aufführung des »Canto General« unter Leitung von Mikis Theodorakis 1980 im Großen Saal des Palastes der Republik. Der »Canto« nach Texten von Pablo Neruda war einst von Präsident Salvador Allende zur Unterstützung der Kämpfer gegen die faschistische Junta in Griechenland in Auftrag gegeben worden. Nach dem Putsch in Chile wurde er als Hommage an den chilenischen Widerstand, aber auch an die zu Grabe getragenen Volksvertreter Salvador Allende und Pablo Neruda in Theodorakis´ Heimat Griechenland uraufgeführt, wo inzwischen die Junta gestürzt war. Ideengehalt, Entstehungsgeschichte und ästhetisches Konzept machten die Berliner Aufführung zu einem umjubelten Ereignis, und der Erfolg bot Mikis Theodorakis die Gelegenheit, dem DDR-Publikum viele weitere Teile seines Schaffens vorzustellen.
Das Milieu einer linken Veranstaltungskultur
Das Festival bestach unter den DDR-Großveranstaltungen auch durch seine organisatorische Andersartigkeit. Nach der Arbeitsweise des Oktoberklubs trugen vor allem ehrenamtliche Festivalgestalter, die nicht selten Teile ihres Jahresurlaubs dafür hergaben, ein hohes Maß an Verantwortung. Programmmacher, Künstler- und Tourneebetreuer, Räumer, Ticket- und Transportverantwortliche, Ideentüftler für die volksfestartigen Polit- und Familien-Kirmessen, Redakteure der Festivalzeitung FZ oder der ideensprühende grafische Gestalterstab um den »Oki«-Erfinder Peter Porsch – sie und viele Ungenannte gaben dem Festival eine Handschrift, die als neuartig, erlebnisreich und kommunikativ empfunden wurde. Zu diesem politischen Bekenntnis-Event, das eben auch Spaß machte, war der Andrang sehr groß. Die Karten haben wollten, mussten sich einen Tag vor Kassenöffnung am Klub- und Organisationszentrum »Haus der jungen Talente« anstellen. Also lag vor ihnen eine kalte Februarnacht. Da hatten die Veranstalter eine Idee: Nummer ziehen, reinkommen, singen und Tee trinken. Diese »Anstehnacht« war bald ein ebenso kultiges Event noch vor der Festivaleröffnung wie die öffentliche »Vorstellsinge« von bereits angereisten Gruppen und Solisten im stets überfüllten Foyer des Palastes der Republik. Mit der Zeit hatte eine solche linke Veranstaltungskultur ihr offenes, ganz und gar nicht elitäres Milieu geschaffen. Junge Leute, die mit dem Sozialismus etwas am Hut hatten, fühlten sich hier wohl. Nicht ohne Grund hatten DDR-Journalisten beweglicher Denkungsart seinerzeit danach gefragt, ob der Singebewegung mit ihrer Tendenz zu eingreifendem Denken und selbstbewusster Behauptung linker Ideale, mit ihren Formen kreativer Planung und Organisation, die doch so viel Raum für persönliches Engagement und kommunikative Bindungen einräumten, nicht etwas Modellartiges für eine demokratische, sozialistische Lebenskultur innewohnen würde. Eine große Niederlage später liegt uns das Ja auf diese Frage, die eigentlich eine Hoffnung war, noch auf den Lippen.
Hartmut König, geboren 1947 in Berlin, war Mitbegründer der ersten deutschsprachigen DDR-Beatband »Team 4« und des »Oktoberklubs«; Autor und Komponist zahlreicher Lieder (»Sag mir, wo du stehst«; Songtexte für den DEFA-Film »Heißer Sommer«); studierte Journalistik in Leipzig, 1974 Promotion; ab 1976 Sekretär des Zentralrates der FDJ; 1989 stellvertretender Kulturminister (Siehe www.eulenspiegel.com).
Mehr von Hartmut König in den »Mitteilungen«:
2019-10: Die untote DDR
2019-09: »Lasst uns die Warnungen erneuern!«
2018-03: My Lai: Amoklauf des »Weltgendarms«