DIE JUNGE GARDE und die »alten Krankheiten«
Günter Herlt, Berlin
Deutschland steht vor der Bundestagswahl 2021. Die Grünen segeln mit Rückenwind Richtung Kanzleramt. Die SPD kommt mit erröteten Segeln kaum aus der Flaute. Uns Dunkelroten werden bei Umfragen meist einstellige Ergebnisse zugeschrieben. Wir haben in Berlin, Erfurt und Bremen einige Böen ausgelöst. Die Berliner Troika ROT-GRÜN-ROT hat mit dem Mietendeckel Wind gemacht, bis ihn das oberste Verfassungsgericht (ohne Wertung – wegen Zuständigkeit!) an das Kanzleramt geschickt hat. Dort müsste nun den Landesregenten der stark interessierten Metropolen die Vollmacht für ein gerechteres Mietrecht gegeben werden.
Dabei gibt es abermals eine große Chance, mit Corona im Rücken, eine überfällige gesellschaftliche Kurskorrektur durchzusetzen. Etwa 3 – 5 Prozent Plus oder Minus an Wählerstimmen könnten das Zünglein an der Waage sein! (Berlin wählt ohnehin anders als die anderen). Doch vorerst reichen die Prozente für Grün-Rot-Rote Bündnisse nur für eine Minderheitsregierung. Das wäre politischer Selbstmord.
Umfragen sind kurzlebig. Unsere Spitzenreiter Dietmar Bartsch und Janine Wissler wollen deshalb auf ein zweistelliges Resultat kommen. So flattern nun allen Wählern die Pandemie-Prozente, Klima-Prozente und Wahlprozente um die Ohren. Da kann jede Information zur Irritation werden. Doch 100 Tage gehen schnell vorbei.
Umgekehrt fällt mir ein: 1871 in Frankreich hatten die Pariser Kommunarden in 100 Tagen die erste Volksrevolution gemacht. Ich weiß, solche Vergleiche hinken. Aber das Programm der Jakobiner wäre für Millionen Europäer noch heute ein lohnendes Wahlprogramm. Der Kampf geht also weiter, doch in anderen Bahnen!
Jede Generation ist Erbe der Vorfahren
Das gilt auch bei Habenichtsen. Drum ist auch das eine Bewährung der »jungen Garde«. Der Vorstand der LINKEN wählte mit 88 Prozent die noch nicht so bekannte Genossin Wissler aus Hessen, neben den wackeren Fraktionschef Dietmar Bartsch, als Spitzenkandidaten für den Bundestag. Janina Wissler sagte, dass sie für radikale Besserungen eintritt, denn wichtiger als Namenswechsel seien Kursänderungen. Sie war 13 Jahre im Hessischen Landtag und immer vor Ort: Gegen Stellenabbau, für bessere Löhne, gegen den Kahlschlag im Dannenröder Forst, für tragbare Mieten, bessere Bildungschancen für Kinder ärmerer Leute, gegen die braunen Wanzen in Uniform oder mit Schlapphüten. Sie verlangt Abrüstung statt Hochrüstung. Janine hat in Frankfurt/Main Politik studiert und als Verkäuferin das Geld dazu verdient. Sie verlangt Vermögensabgaben der Superreichen. Die Morddrohungen aus dem Briefkasten legt sie mit zwei Fingern zur Seite wie auch die Flugblätter, die Deutschlands Freiheit immer noch am Ende der Welt suchen.
Wer so aktiv ist, wird mit 40 erst 30 und darf auch mal radikal sein als Fackelläuferin für DIE LINKE. Man darf nur keinen Aschehaufen hinterlassen!
Das erinnert mich als Veteran an einen jungen Helden, von dem ich in den 50er Jahren in dem Roman »Wie der Stahl gehärtet wurde« von Nikolai Ostrowski erfuhr. Als dieser Pawel Kortschagin vor 100 Jahren, also nach dem I. Weltkrieg, gehört und gesehen hatte, wie die deutschen Besatzer in die Ukraine einfielen und in den Interventionskriegen die gefangenen Rotarmisten gefoltert und gehängt wurden, um die Namen ihrer Anführer zu erfahren, da machte Pawel eine Mutprobe: Er stach mit einem Bohrer in sein Knie! Und erst als er dies schweigsam überstanden hatte, meldete er sich bei der Roten Armee als Freiwilliger.
Doch Vorsicht, junge Streiter! Das war zwar radikal, aber auch dumm, denn nun war er vorerst nicht einsatzfähig.
Solche Widersprüche zwischen Strategie und Taktik bei Konfliktlösungen beschäftigten den russischen Revolutionsführer Lenin im April 1920 derart, dass er eine Denkschrift mit 90 Seiten schrieb. Titel:
Der »linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit des Kommunismus
Darin geht´s um solche Fragen, die schon 100 Jahre in Europa aktuell sind:
- Warum sind manche, aber nicht alle Erfahrungen der Oktoberrevolution in anderen Ländern anzuwenden? Sind Kompromisse erlaubt?
- Welche Besonderheiten sind in Deutschland oder England zu beachten?
- Sollen Revolutionäre in reaktionären Gewerkschaften arbeiten?
- Darf man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen?
Einige Ratschläge Lenins habe ich hier mal verkürzt notiert:
- Wenn das Volk nicht mehr will und die Regierung nicht mehr kann, wird sich der Widerstand gegen den Regierungssturz dennoch verzehnfachen. Nicht nur durch die Stärke des internationalen Kapitals und seiner Verbindungen. Auch durch die große Macht der Gewohnheit und der Stärke der sehr vielen Kleinproduzenten …
- Wir müssen uns mit den breitesten Massen, den proletarischen, aber auch nichtproletarischen verbinden, ja sogar verschmelzen … Unsere Theorie ist kein Dogma …
- Manche halten sich für »revolutionär«, weil sie für individuellen Terror sind, was wir Marxisten entschieden ablehnen …
- Wir müssen lernen, auch in reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten … Unter deutschen »Linken« wird das verneint. Das ist grundfalsch. Das sind 4 Millionen Mitglieder … Wir können uns keine Wunschmenschen backen … Aber vor der »Arbeiteraristokratie« als Offiziere des Kapitals hatte Engels schon 1858 in einem Brief an Marx gewarnt … Diese Leute werden zu allen Mitteln der Diplomatie greifen, zur Hilfe der Regierungen, der Pfaffen, der Polizei, der Gerichte, um die Linken aus den Gewerkschaften rauszuhalten …
- Die deutschen »Linken« lehnen die Beteiligung an den bürgerlichen Parlamenten entschieden ab. Der Parlamentarismus sei längst »historisch überlebt«. Gewiss doch, aber das enthebt uns doch nicht einer sehr langen und sehr hartnäckigen Auseinandersetzung auf dem Boden des Kapitalismus. Eine neue Epoche hat begonnen. Aber der welthistorische Maßstab rechnet nach Jahrzehnten … sonst werden wir einfach Schwätzer …
- Von einer Gleichsetzung der Verhältnisse in Russland und in Westeuropa kann keine Rede sein … Revolutionäre Stimmung allein reicht auch nicht. Die Taktik muss auf einer nüchternen, streng objektiven Einschätzung aller Klassenkräfte des Landes und der ganzen Welt aufgebaut werden … Dabei muss auch der kleinste »Riss« zwischen den Feinden beachtet werden …
Nutzt auch die Risse zwischen den Feinden
Diese Hinweise mögen hier reichen. Eine PC-Seite aus 90 Druckseiten, das ist sehr verkürzt. Aber immer wenn wir über die Zukunft reden, schreien die Widersacher: »Die wollen den alten Sozialismus wiederhaben!« Sagt denen: »Nein, das wollen wir nicht. Aber wir lassen uns unsere besseren Beispiele auch nicht »ent-wenden«! Wir wissen auch das hohe Lebensniveau und die »soziale Bindung des Eigentums« im Grundgesetz zu schätzen. Doch wir nehmen diese Paragraphen beim Wort!
Beachtet mal das »entschleunigte historische Tempo« in Lenins Streitschrift.
Nach den zwei Weltkriegen in einer Generation war es in Deutschland möglich und nötig, eine antifaschistisch-demokratische Umwälzung im Geist der Potsdamer Konferenz der vier Siegermächte anzustreben. Der spätere Kurs auf einen demokratischen Sozialismus war keine »falsche Idee«, vielleicht eher das falsche Jahrhundert. Es wurde aber ein kurzatmiger Wettlauf der Volksrepubliken Osteuropas um die Frage: Wer ist der Erste?
Dabei kamen die neue Ökonomie, die Preispolitik, das Leistungsprinzip, das Eigentümer-Bewusstsein, die Bündnispolitik statt Gängelei einfach zu kurz. Zumal die Westmedien im Kalten Krieg, rund um die Uhr auf gleichem Sprachgebiet, alles madig machten, was wir vollbracht hatten. Die Überwindung der Kriegsfolgen, der Reparationen, des Embargos und des Rüstungs-Wettlaufes waren ohnehin Bremsklötze für den Konsumbereich. Am Ende siegte nicht die »bessere«, sondern die »reichere« Welt.
Dennoch gelang dem Kapitalismus nicht, mit der Anhäufung existenzieller Krisen für seine Völker fertig zu werden. Massenarbeitslosigkeit, Bankenkrisen, Bildungskrisen, Wohnungsnot und Mietwucher, fehlende Rechte für Frauen und Kinder, Digitalisierung, alles hinkt hinterher. Nur die Börse jubelt trotz Schulden. Das vertieft die Widersprüche des Kapitalismus.
Der spürt, dass sich die Erde linksrum dreht. Das frühere Entwicklungsland China erreichte in historisch kurzer Frist den 2. Weltrang mit seinen wichtigsten Potenzen. Doch umso rabiater verteidigt nun das Großkapital seine globalen Machtposten mittels Außenpolitik, Militärpolitik, Handelskriegen, Eigentumsrecht, Erbrecht und Verschwörungslegenden. Die Europäische Union wurde zum Tummelplatz nationaler Egoisten. Die stellen ihre atlantische Bündnistreue über die Lebensinteressen der eigenen Nation und lehnen sich an die falsche Wand, wo Hass und Hetze blühen, aber keine lebenswerte, friedfertige Zukunft in Sicht ist.
Die LINKEN müssen in dieser Lage immer weit über den Tellerrand blicken, um das komplexe, dynamische Weltgeschehen zu analysieren. Zugleich müssen wir sehen, welche Probleme das Heer der Abhängigen bedrücken. Krankheiten, Rechnungen, Enkel ohne Job, unbezahlte Überstunden … Aber zum 1. Mai laufen ein Dutzend Kolonnen. Bringt das Zusammenhalt?
Was die Menschen tun, muss zuerst durch ihren Kopf hindurch
Unsere Partei hat ein dickes Wahlprogramm vorgelegt. Da gibt es auch SCHLAGWORTE, die REIZWORTE geworden sind. Ich lese von einem neuen WIR-Gefühl. Wie tragfähig ist das in dieser gespaltenen Gesellschaft?
Die LINKE will gierige Wohnkonzerne enteignen. Das ist erlaubt und nötig. Aber das Stichwort »enteignen« macht vielen Kleinbesitzern eine Gänsehaut. Daher müssen wir vorher den Wählern erklären: WER hat WEN enteignet?
Die LINKE verlangt eine Kursänderung. Richtig! Aber wie bezwingt ein Maat den Kapitän, wenn nicht mit dem Kern der ganzen Mannschaft? Unsere zwei früheren Galionsfiguren Gysi und Wagenknecht sind in die zweite Reihe getreten. Bartsch und Wissler haben starke Motoren, aber reichen unsere Schlachtschiffe?
Der Mindestlohn soll 13 Euro sein. Ziehen alle Gewerkschaften mit? Der ÖPNV soll verbessert werden. Muss die LINKE die Grünen überholen? Auch mit verteuerten Billigflügen, mehr Heimaturlaub und Gemüsesuppen? Die LINKE sagt: Rüstungsexport und Auslandseinsätze der Bundeswehr sollen unterbleiben. Die Grünen antworten: Ohne uns!
Kurzum: Wir haben dank guter Erfolge neue Chancen. Wir haben aber auch neue Probleme. Die Fettnäpfchen stehen dicht an dicht. Da ist mit »linkem Radikalismus« nicht viel zu gewinnen. Den meisten Wählern geht es immer nur um die nächsten Jahre. Da können drei erreichbare Ziele nützlicher sein als 100 Versprechen! Doch wenn wir nicht nur mit 4 – 5 Jahren, sondern auch mit 4 - 5 Wahl-Perioden rechnen lernen, ist es sehr viel sicherer, dass wir gewinnen. Wir sind nämlich die einzige Parlamentspartei, die an die Wurzeln aller Übel geht, damit es dem Gemeinwohl endlich rundum besser geht!
Also: geht von Tür zu Tür, lächelt, nennt Fakten, aber schont Eure Knie! Wer die Herzen der Stöhnenden erreichen will, muss über die Ohren kommen.
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