Der dicke Knüppel
Günter Herlt, Berlin
Es ist 75 Jahre her. Wer heute jünger als 90 Jahre ist, kann es nicht bewusst erlebt haben. Man kann zum Lexikon greifen. Das sechsbändige »Junior-Lexikon« des Hamburger Zeitverlages erklärt Hiroshima so: »Japanische Hafenstadt mit 1,1 Mio. Einwohnern. Die Innenstadt wurde am 6. August 1945 nach Abwurf der ersten Atombombe durch ein amerikanisches Flugzeug völlig zerstört. 280.000 Menschen starben, mehr als 100.000 wurden verletzt. Die Stadt versteht sich heute als Mahnmal.« Als dies geschah, war die bedingungslose Kapitulation der Nazi-Wehrmacht bereits drei Monate vorher in Berlin-Karlshorst unterzeichnet.
Die alliierten Siegermächte saßen vereint bei der Potsdamer Konferenz. Sie legten die wichtigsten Schritte der Nachkriegsentwicklung fest, um den deutschen Faschismus und Militarismus unwiederholbar zu machen. Doch die japanischen Streitkräfte führten den Krieg als Hitlers Verbündete weiter. Sie wollten zwei Kapitulationsbedingungen der Amerikaner nicht anerkennen: Die Abschaffung des Kaisertums und die Besetzung mit USA-Truppen. Dagegen leistete die japanische Armee hinhaltenden Widerstand, aber mit tausenden Kamikadze-Fliegern im Rücken, die sich selber in den Tod stürzen würden. Eine Invasion der US-Truppen hätte längere Vorbereitungen und höhere Verluste gekostet. Deshalb lag den USA an der schnellen Eröffnung einer zweiten Front durch die Sowjetunion, die dann eine Million Soldaten an ihrer Südostküste in Stellung brachte. Das gefiel nun aber dem US-Generalstab gar nicht, wegen seiner Pläne im asiatischen Raum. Daher ließen sie ihre neue »Wunderwaffe« von der Kette. Es folgte die riskante Erprobung der ersten Atombombe durch den Abwurf über der Millionenstadt Hiroshima. Offiziell hieß es dann: »Wir wollten den Krieg verkürzen.« Das klang human, war aber Bluff.
Das »Baby« wurde zum Monster
Mit dieser neuen Waffe wurde die massenhafte Tötung von Soldaten und mehr noch von Zivilisten in eine neue Dimension katapultiert. Die US-Atombomben auf Hiroshima und drei Tage später auf Nagasaki wurden als »dicke Knüppel« einer Politik der Stärke gegenüber Japan, China, Moskau und Osteuropa benutzt. Bis vier Jahre später die sowjetische Nachrüstung zur Brechung des US-Kernwaffenmonopols gelang. Auf beiden Seiten waren auch deutsche Spezialisten beteiligt. Damit entstand dann ein makabres »Gleichgewicht des Schreckens«, das aber auch wesentlich zur längsten Friedensperiode in Europa beigetragen hat.
Die Hiroshima-Bombe nannten die US-Generale »Little Boy« oder »Baby-Bombe«. Ihre Sprengkraft entsprach 12.500 Tonnen vom herkömmlichen Sprengstoff TNT. Doch zur Druckwelle kam der Feuersturm und die Verstrahlung von Mensch, Natur und Material auf unabsehbare Zeit. Von den Menschen im Kernbereich blieben nur verkohlte Leichen und Schatten an der Wand. Alle unbedeckten Teile der Haut wurden tödlich verseucht. Diese Wirkungsberichte in Wort und Bild waren ein militärisches Geheimnis und blieben jahrelang unter Verschluss.
In den Rüstungslabors wurden Weiterentwicklungen gesucht und gefunden: Wasserstoffbomben, Neutronenbomben, Trägerraketen, Marschflugkörper, Mehrfachsprengköpfe. Die USA prahlten mit einer 100-Zentner-Bombe, die die 600-fache Wirkung der Hiroshima-Bombe hat.
Auf Drängen des Ostens, der UNO und vieler Wissenschaftler gab es Verträge zur Abrüstung zwischen den USA und der UdSSR. So wurden die Bestände beider Staaten tatsächlich reduziert, nicht aber die »Klimmzüge« der Militärs und der Rüstungs-Lobby.
Heute – 30 Jahre nach Beendigung des Kalten Krieges – gibt es weltweit 13.400 kleine und große Atomsprengköpfe. Die Friedensforscher des international besetzten Institutes Sipri in Stockholm fanden nur 465 Sprengköpfe weniger.
Die USA und Russland verfügen je über 6.000 dieser Waffen, Bunker und Träger. Frankreich hat 300 land- und see-gestützte Sprengköpfe. China wird auf 290 geschätzt. Großbritannien meldet 200, Pakistan 155, Indien 135, Israel 85, Nordkorea 25. Andere Staaten basteln noch. Mister Trump hat die letzte Abrüstungsvereinbarung aufgekündigt und übt den »Sternenkrieg«.
Welchen Abstand haben wir zu dem »Teufelszeug«?
Nicht weit zwischen Eifel und Hunsrück liegt der Fliegerhorst Büchel! Dort lagern die USA seit vielen Jahren etwa 20 Atomsprengköpfe, deren kleinstes Kaliber ein 10-faches Hiroshima androht. Zusammen mit solchen Depots in Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei sind das vorgeschobene NATO-Arsenale zur »Verteidigung des Abendlandes«. Sie werden derzeit modernisiert. Es soll dann auch kleinere Kaliber geben. Die senken die Hemmschwelle zum Einsatz bei regionalen Konflikten. Die Risiken sind aber auch bei jedem Kernkraftwerk ähnlich und nicht erst seit Tschernobyl bekannt.
Hiroshimas Innenstadt ist inzwischen wieder aufgebaut. Als Mahnmal blieb die Ruine der Industrie- und Handelskammer mit ihrem Kuppelbau. Hinzu kam eine Friedensglocke, die jedes Jahr am 6. August um 8 Uhr 15 – dem Zeitpunkt des Abwurfes – ertönt.
Die Regierenden der USA haben sich nie für das Massaker entschuldigt. Warum auch, wenn beim Start des ersten Atombombers ein Militärgeistlicher der Mannschaft seinen Segen als »göttlichen Begleitschutz« gab? Die zunehmende Militarisierung der NATO-Außenpolitik macht solche Priester wichtiger als die Diplomaten!
Kaiser Wilhelm ließ vorsorglich auf die Koppelschlösser seiner Soldaten stanzen: »Mit Gott für Volk und Vaterland«. Da jetzt gerade ein goldenes Kreuz auf die Kuppel der Berliner Schlossattrappe gesetzt wurde, sollten wir wohl ähnliches für die Koppel der Bundeswehr in Erwägung ziehen? Wir hatten ja schon einen Geistlichen als Bundepräsidenten, der meinte, dass die ökonomische Großmacht Deutschland nicht nur politisch, sondern auch militärisch mehr Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen solle. Der Oberbefehlshaber in Washington betont aber, dass seine neuen Lenkwaffen – dank der künstlichen Intelligenz – viel präziser und wirksamer wären. Da dieser Mann jedoch mehrfach bewiesen hat, dass seine »natürliche Intelligenz« sehr begrenzt ist, sollte man keine dieser Wunderwaffen anhimmeln, sondern alle abschaffen!
Günter Herlt ist Jahrgang 1933, Berliner. Volksschule, Zimmermannslehre, ABF-Studium ... Ab 1968 Kommentator und Korrespondent des DDR-Fernsehens, zuletzt Chefredakteur für Auslandsreportagen, ...
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