Amerika in Scherben?
Dr. Hartmut König, Panketal
In der ersten Januarwoche ereignete sich in Washington etwas Erwartbares. Anhänger des abgewählten, aber noch amtierenden USA-Präsidenten stürmten das Kapitol. Sie empörten sich, dass ihrem Abgott die Wiederwahl »gestohlen« sei und waren bemüht, die offizielle Bestätigung des Wahlsiegers Joe Biden durch den Kongress zu verhindern. Donald Trump selbst hatte sie kurz zuvor auf dem inszenierten »Save America March« dazu aufgewiegelt. Sowas schreibt Geschichte: Der auf das Wohl der Nation vereidigte POTUS [1] bläst zum Marsch auf das sakrosankte Symbol der US-Demokratie. Ganz unverhüllt. Beim Reichstagsbrand 1933 ging es heimlicher zu.
Den fast ausnahmslos weißen Eindringlingen ins Kapitol stand eine armselige Schar von Sicherheitsbeamten gegenüber. Die waren, sofern sie sich nicht als Schleuser oder Selfie-Partner des Mobs entpuppten, vornehmlich damit beschäftigt, ihre Politiker in Sicherheit zu bringen. Im Nachherein wurden Pläne zur Geiselnahme und Ermordung öffentlich. Viel zu spät traf die Nationalgarde ein. Die Kommentare über den seltsamen Zeitverlust reichen von Nibelungentreue zum Oberbefehlshaber bis zu sarkastischen Vergleichen mit der jederzeit zügigen Niederschlagung von Black-Lives-Matter-Aktionen.
Die hässlichen Bilder gingen um die Welt. »Amerika in Scherben« titelte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und verzichtete auf das Fragezeichen. Den Ideologen längst fetischisierter westlicher Freiheitswerte gefror das Blut. Ihre Amerikahörigkeit erlebte einen brandneuen Rechtfertigungsdruck. Bisher musste man den nie überwundenen Rassismus oder die Gendarmenmentalität der US-Außenpolitik mit ihrem geostrategisch und ökonomisch motivierten Drang nach Krieg und Intervention in der Öffentlichkeit verklären. Nun war es der Angriff von innen, ein mit höchstem Placet geführter putschartiger, gefährlich armierter Marsch rechter Ultras auf die Institutionen. In dessen Gemenge Nationalisten, Faschisten, Rassisten, Verschwörungstheoretiker, verwirrte, oft sozial benachteiligte Follower des präsidialen Lügengedöns. Sie fläzten sich in die Sessel der Amtsträger und träumten einen Rülpser lang, sie wären Inhaber von Macht. Das Fatale bleibt: Millionen Trump-Wähler marschierten im Geiste mit. Nun ist die Phalanx der Transatlantiker qua Amt oder Glaube auch hierzulande bemüht, die Vorgänge als eine gefährliche, von der neuen Administration jedoch zu heilende Anomalie der amerikanischen Führungsmacht hinzustellen. Ist es eine Anomalie? Und was wäre da heilbar?
US-Demokratie entkleidet zur Kenntlichkeit ihres Ruins
An jenem 6. Januar 2021 geschah nichts aus heiterem Himmel. Die militantesten Gruppen hatten, was sie »Krieg« nannten, längst durchgespielt. Selbst die Pläne der Fluchttunnel standen im Netz. Beim Erfolg einer derart angesagten Revolte stellen sich Fragen. Wie entstand das Klima, in dem das geschehen konnte? Wer aus den gehobenen Zirkeln der Macht leistete Planungshilfe? Lag in der verzögerten Gegenwehr das Kalkül, genau jene Bilder entstehen zu lassen, die den Trumpisten in der tief gespaltenen Gesellschaft künftig als Ermutigung zu neuen Anläufen dienen sollen? Deren Sendungsbewusstsein sitzt tief. Millionen Amerikaner, vor allem Weiße aus der frustrierten Mittelschicht und dem Prekariat, sind von Arbeits- und Wohnungslosigkeit, von Bildungsferne und mangelnder Gesundheitsfürsorge betroffen oder bedroht. Sie trauten der autokratischen, auf gesellschaftliche Regeln pfeifenden Führungsfigur Trump zu, ihnen Sicherheit und Würde zurückzugeben. Und viele tun es noch immer. Die »America First«-Rufe aus dem Weißen Haus hatten sie wie eine Heilsbotschaft gehört. Eine Mauer zu Mexiko gegen die Flüchtlinge, Handelskriege für Jobversprechen, Attacken gegen Nord Stream 2 zugunsten amerikanischen Fracking-Gases … Provozierende Egoismen mit absehbaren Langzeitschäden für das internationale Erscheinungsbild der USA waren in Trumps Twittergewitter so lange zu Akten patriotischen Widerstands umgelogen worden, bis sie seinem Gefolge als Wahrheiten ins Gehirn genagelt waren.
»Make America Great Again« hieß unter der Troika Trump-Pence-Pompeo zudem, Reste der in Zeiten größerer Vernunft errichteten internationalen Sicherheitsarchitektur zu zerstören. Der INF-Vertrag oder das Open-Skies-Abkommen wurden einseitig gekündigt. Die USA entzogen sich den Verpflichtungen der Pariser Klimaschutzkonferenz und torpedierten das multilaterale Atom-Abkommen mit dem Iran. Bis in die letzten Amtstage hinein war das Trio bemüht, den globalen Status Quo zugunsten der reaktionärsten Allianzen möglichst dauerhaft zu verändern. Provokativ ließen sie die US-Botschaft nach Jerusalem umziehen. Netanjahu dankte soeben mit aktuellen Bauplänen für 800 Wohnungen im besetzten Westjordanland. Kuba wurde wieder auf die »US-Terrorliste« gesetzt, um dritten Staaten den Verzicht auf Handelskontakte mit Havanna abzupressen. Genervt vom Scheitern des Mietlings Guaidó in Venezuela und der Abwahl des gegen Evo Morales installierten Regimes in Bolivien, lud man die gespeicherte Wut auf die sozialistische Insel ab, die Washingtons hegemoniale Anmaßung in Lateinamerika schon so lange stört. In der Volksrepublik China, die sich zur international führenden Wirtschaftsmacht entwickelt, begegnen die USA ihrem aufstrebenden historischen Gegenentwurf. Die sozialen Errungenschaften im Lande und die Vision einer »neuen Seidenstraße« mit ihren Perspektiven für gerechtere internationale Beziehungen stoßen gerade in ärmeren Ländern auf Neugier und Sympathie. Folglich verschärfte Washington die politische, wirtschaftliche und militärische Konfrontation mit der konkurrierenden Weltmacht, kann aber deren Stärke und Zukunftsfähigkeit nicht eindämmen. So führte Trump seinen letzten Schlag erneut gegen ein internationales Tabu und wertete die Beziehungen zu Taiwan auf. Dass er die verheerende Corona-Bilanz der USA als chinagemacht erklärte, verstand die Welt als Ablenkung von seiner desaströsen Untätigkeit und Wissenschaftsferne.
Sieht man von Trumps Attacken auf die NATO und die Europäische Union ab, hat er außenpolitisch nur auf die Spitze getrieben, was – nuanciert durch die Eigenarten der Zeit - in der US-Nachkriegsgeschichte angelegt war. Als er die Republikanische Partei kaperte und nach der Präsidentschaft griff, erlaubte ihm das nicht seine narzisstische Machtbesessenheit, sondern ein ultranationalistischer Bonzenblock. Dieser meinte, die inneren und äußeren Niedergangserscheinungen der Vereinigten Staaten verlangten nach einem Rambo, der die Welt neu zurechtschlägt und daheim mit der Suggestionskraft eines Magiers den Wahlsieg der Konservativen sichert. Das Mission accomplished lag ihnen schon auf der Zunge, als der POTUS zum Schluss alles verdarb. Er gewann die Wiederwahl nicht, und die Republikaner stehen fortan in beiden Häusern des Kongresses ohne Mehrheit da. Trumps gestörtes Ego, wohl auch von Knastängsten aufgewühlt, blies zu korrektivem Aufruhr. Seine feige Partei duckte sich weg, während draußen das Gros der kapitalistischen Staatenlenker die Rückkehr Amerikas zur Demokratie forderte. Damit konnten sie nur meinen, eine zur Kenntlichkeit ihres Ruins entkleidete Demokratie solle in ihr altes Kostüm zurücksteigen.
Was ist die Erstürmung des Kapitols gegen die Kriege des Kapitols?
Wer angesichts der geostrategischen Wilderei der USA Narrative wie »Herz der Demokratie« für das großenteils von Sklaven errichtete Prunkgebäude ohnehin blasphemisch findet, der mag nach Brecht fragen: Herrgottchen, was ist die Erstürmung des Kapitols gegen die Kriege des Kapitols? Aber die Fassadenkletterer protestierten ja nicht gegen den Bellizismus der USA, der verheerende Kriege in Indochina oder dem Irak entfachte, der seit 1945 in fast jeden proimperialistischen Coup d´état auf dem Globus verwickelt war, der Foltergefängnisse in Abu Ghraib, Guantánamo und in geheimen Verliesen Osteuropas einrichtete, Drohnenangriffe mit unverantwortbaren Kollateralschäden flog und beweisführenden Whistleblowern wie Julian Assange ans Leben will. Ebenso wenig marschierten sie gegen den waffenklirrenden Rassismus oder den Spuk der Hakenkreuz-Tätowierten. Im Gegenteil, sie sind Kombattanten dieser amerikanischen Malaise. Ihrem Aufruhr können wir keine Sympathie entgegenbringen.
Nun ist Biden hinter Militärbarrikaden vereidigt worden. Innenpolitisch wird er durch soziale Zugeständnisse, ein vernünftigeres Corona-Management und wirtschaftliche Nothilfen versuchen, die Spaltung der Gesellschaft einzudämmen. Außenpolitisch wird er verbal abrüsten und bestrebt sein, das Verhältnis zu düpierten Verbündeten zu verbessern. Entgleisungen á la Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen und der WHO sind bereits repariert. Aber allein die beabsichtigte Wiederverwendung der Putinfresserin Victoria Nuland (Maidan-Einpeitscherin und für ihren »Fuck the EU«-Ruf von Kanzlerin Merkel zur Ordnung gerufen) als Unterstaatssekretärin im US-Außenministerium lässt ahnen, dass von der neuen Administration keine durchgreifende Détente zu erwarten ist.
Und der innere Frieden? Ihn wird es nur geben, wenn begriffen ist, dass der Riss in Amerika nicht zwischen Staaten, Parteien, Hautfarben oder Geschlechtern verläuft, sondern an der Trennlinie realer gesellschaftlicher Teilhabe und Machtausübung. Wer Bernie Sanders folgt, weiß das. Aber eine in altem Denken erstarrte Demokraten-Führung hat ihn und seine Denkrichtung ausgebootet. Und 74 Millionen Trump-Wählern klingt ihres Meisters Prophezeiung im Ohr, »dass unsere unglaubliche Reise gerade erst beginnt«. Der Albtraum schwelt.
Trumps Jahre an der Macht waren keine Anomalie, sondern administrative Ausfallschritte einer kranken Nation. Eine hässliche Normalität, ins Extrem gedehnt. Amerika in Scherben? Ja. Heute und wer weiß, wie lange. Aber es wandern die Steine.
Anmerkung:
[1] POTUS = President Of The United States.
Mehr von Hartmut König in den »Mitteilungen«:
2020-12: Der russophobe Schatten des Kalten Krieges überlebt in einer ZDF-Serie
2020-06: Mandelas Erbe
2020-02: Die Welt in Liedern