Am 18. Mai 1990 eröffnete am Alex das 1. Spielkasino der DDR
Günter Herlt, Berlin
Es war ein großer Tag, als das große Haus auf dem Alex am 7. Oktober 1970 – also vor einem halben Jahrhundert – als Interhotel »Stadt Berlin« eröffnet wurde. 1.028 Zimmer mit 1.982 Betten, verteilt auf 39 Etagen bis 130 Meter hoch. Da gab es noch kein Spielkasino. Der Blickging weit über den Roulette-Kessel hinaus. So konnte man viel erleben.
Auch als sich in der Nacht der Nächte, am 9. November 1989, alle Schleusentore in der Ringmauer der DDR um Westberlin weit öffneten. Da sah man viele Glücksritter herbeiströmen, um sich die Beute zu teilen. Zuerst die Bananenhändler, dann die SEX-Shops und gleich darauf die Spielbuden-Könige. Es folgten ALDI, Neckermann und Quelle als Räumbagger gegen die ostdeutschen Kaufhallen. Mittendrin die Schrotthändler für gebrauchte Westautos, die Makler und Anwälte der Alteigentümer. Und mancher Ostmensch fühlte sich schon wie ein kleiner Kapitalist, ohne zu merken, wie sein mütterliches Heimatland aufgeweicht wurde zur Kapitulation.
Ein »irrer Duft nach Freiheit« wirkte wie Rauschgift. Da sollte das erste Spielkasino im Interhotel am Alex auch hineinpassen. Ein Casino-Salon im 37. Stockwerk – ganz nahe am Himmel – wer hatte das schon? Obwohl kein Anwohner ausgerechnet darauf gewartet hatte.
Es war ein irres Jahr. Die ganze Welt spielte quasi Roulette. Die Ostmächte fielen auseinander. Die Westmächte stritten über die richtige Konsequenz. Die Helden des Umbruchs wurden kaum gefragt. Die Sicherung der Beute war wichtiger. Alle Nachrichten galten nur für Tage. Der von Bonn seit 1949 angestrebte Systemwechsel in der DDR schien unaufhaltbar. Der Mauerfall hatte das Terrain »sturmreif« gemacht. Kanzler Kohl lockte mit »blühenden Landschaften« und verhandelte mit Gorbatschow über die »Rausgabe« der DDR. US-Präsident Clinton empfing Jelzin als neuen Chef in Moskau. London und Paris warnten vor einer Bündelung deutscher Macht. Altkanzler Kohl zog einen Konföderationsplan aus der Tasche. Der galt keine Woche. Der »Runde Tisch« drängte auf eine gesamtdeutsche Verfassung, die nie kam. Das ostdeutsche Parlament beschloss, eine Treuhand-Anstalt als Erbe-Verwalter des Volkseigentums zu gründen. Diese Einrichtung wurde wenig später zur Abrissbirne. Die Armee der Arbeitslosen und Pendler wurde immer größer. Rechtsradikale grölten in Dresden unter schwarz-weiß-roter Flagge. Teenies machten Drogen-Partys. Die Alt-Bundis glaubten, ihr letztes Hemd für die gequälten Ossis geben zu müssen. Die Ossis merkten erst später, dass 95 Prozent des Volkseigentums in westliche Hände geriet. Die Umwertung aller Werte lief. Eine große Zeit für Spieler mit Risikolust beim europäischen Roulette!
Wie kam es zum Genickbruch für die DDR?
Das alte große Gästehaus am Alex hatte keine Schuld. Das war ein beliebter Ort der Gastlichkeit mit 1.000 Angestellten und vielen Bussen vor der Tür. Mit Restaurants, Friseur, Garage, und schnellen Fahrstühlen. Doch sechs Monate nach dem Mauerfall erlebte das Haus eine Art Herztransplantation. Das warme Herz der Völkerfreundschaft wurde vertauscht gegen das kalte Herz eines Glücksspielsalons. Und das kam so:
Irgendein gut informierter Spiel-Bankier am Rhein oder Wannsee muss Wind bekommen haben, dass sich am 6. Februar 1990 ein kleiner Beraterstab des Kanzlers Kohl in einem Westberliner Gästehaus traf. Dort ging es um den baldigen Geldumtausch und um die Volkskammerwahl der DDR am 18. März 1990. Die »Blockflöten« der Ost-CDU hatten sich mit dem »Demokratischen Aufbruch« DA und der ultrarechten Ostschwester der CSU, genannt DSU, in der »Allianz für Deutschland« AfD vereinigt. Diese Allianz hoffte, den befürchteten Sieg der SPD in Ostdeutschland aufhalten zu können. Was auch mit vielen Tricks gelang. Der Genickbruch für die DDR-Wirtschaft wurde die Einführung der D-Mark. Die Presse schrieb, das habe das Volk im Osten so verlangt: »Kommt die D-Mark nicht nach hier, gehen wir zu ihr!«.
Tatsächlich gab es solche Rufe am 12. Februar 1990 bei der Montagsdemo in Leipzig. Daniela Dahn, eine Meisterin der Recherche und publizistischen Aufklärung, fragt in ihrem Buch »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute«, wie denn dieser Ruf aus der geheimen Beratung in Westberlin so rasch nach Leipzig kommen konnte? In den Zeitungen geisterte nur der Begriff der »Zahlungsunfähigkeit« der DDR herum. Was grober Unfug war. Schulden sind Zahlungen, die am Tag der Fälligkeit nicht beglichen sind. Die DDR hatte aber ihre Verpflichtungen stets eingelöst. Umgekehrt gab es jedoch beträchtliche Rückstände bei einem Dutzend anderer Länder zu Lasten der DDR. Und weil die Gewinne der volkseigenen Betriebe in den Staatshaushalt der DDR einflossen, sind vorhandene »Altlasten« dieser Betriebe nach der Vereinigung eine »inkompatible Verrechnungsgröße« für die Buchhalter in Bonn geworden. Außerdem hatte noch niemand eine Vorstellung, was der Ausverkauf der 12.354 volkseigenen Betriebe und die Waffen und Kasernen der Volksarmee einbringen werden. Die Gutachten lagen zwischen 600 Milliarden bis über einer Billion! Die Legende von der Zahlungsunfähigkeit der DDR war also nur ein »Brandbeschleuniger« für den Ausverkauf.
Die SPD versuchte zu bremsen, weil dies zum Kollaps der DDR-Wirtschaft führen musste, denn deren wichtigste Handelspartner in Osteuropa hatten keine Valutareserven. Das sah auch der damalige Präsident der Bundesbank Karl Otto Pöhl so: Westwährung bringt Westpreise und verlangt auch Westlöhne. Der Osten verlor seinen Standortvorteil, der Westen gewann die Vollbeschäftigung. Die »befreiten« Berufstätigen des Ostens mussten den Firmen im Westen als »Lohndrücker« hinterherlaufen. Kohl hatte das Spiel und die Wahl gewonnen! Die Treuhand meldete später einen Verlust von 330 Milliarden DM. Wer so beim Pokern einbricht, bringt sich um! Frau Breuel freute sich über das Bundesverdienstkreuz.
Und was kann das Spielkasino am Alex dafür?
»Alles oder nichts!« heißt es beim Glücksspiel. Da das kapitalistische System ein unberechenbares Roulette ist, gilt der Spruch: »Wer ein Kamel reiten will, muss die Höcker mögen.«
Im Spiel-Casino sind die Sessel aber weich gepolstert. Als 1720 die erste deutsche Spielbank gegründet wurde, geschah dies in Bad Ems. Da verkehrten nur Adlige und Majestäten. Das blieb so in Baden-Baden, in Wiesbaden, Bad Neuenahr und so weiter. Dann wurde aber nach amerikanischem Vorbild – gemäß der Klassenstruktur – unterhalb der Salons für »das Große Spiel« mit Krawatte oder Fliege und ohne Limit – zu Füßen der Obrigkeit ein Keller mit Spielautomaten, »einarmigen Banditen« für Proleten und Handwerker im Straßenanzug eingerichtet.
Bauern und Banker sagen: »Kleinvieh bringt auch Mist«. Von den rund 700 Millionen Euro Jahresgewinn kommen 75 Prozent aus den »Spielhöllen«!
Deutschland hat etwa 60 bis 65 staatliche Casinos und daneben private Kommanditgesellschaften. Die Zahlen ändern sich alle Jahre. Man sagt zwar »Die Bank gewinnt immer!«, das gilt aber nur, solange den Betreibern die Rendite reicht, und das hängt von vielen Umständen ab. Die Jetons können zwischen 100 und 500 Euro liegen. Es gibt Jackpots bis 50.000 Euro. Es gibt »sterbende Plätze« wie am Potsdamer Platz. Es gibt neue Investoren wie die USA-Gruppe, die 2006 das komplette Haus kaufte. Das zählt zu den zehn umsatzstärksten Hotels in Deutschland. Da hat man erstmal 35 Millionen Euro im Jahr sicher.
Sicherheit ist wichtiger als Freiheit, sagt die Bundesregierung. Der Kandidat für das Kanzleramt, Merz, erklärte in einer Talkshow, dass man hier und heute bei wachsender Altersarmut nicht auf die Rente bauen kann. Besser wäre – neben der Betriebsrente – ein drittes Standbein in der Aktienbörse zu haben.
Das scheint mir ein guter Tipp – natürlich nur für Leute, die 5.000 oder 50.000 Euro auf die richtigen Konzerne setzen und lächeln können, wenn sich der Einsatz in Rauch auflöst!
Wie heißt es am Roulettetisch, wenn die Kugel rollt? »Nichts geht mehr!«
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