Agent Orange für die Menschenrechte?
Dr. Jochen Willerding, Rangsdorf
Die Menschenrechte gehörten zur »DNA der USA«, meinte der derzeitige US-Präsident, Joe Biden, jüngst nach seinem Treffen mit dem »Killer«, Wladimir Putin, im Juni d. J., der staunenden Welt mitteilen zu müssen. Die vietnamesischen Opfer des imperialistischen US-Angriffs Mitte der 60er Jahre werden ihren Ohren nicht trauen. Hat doch sein Vor-Vor-Vorgänger, ebenso ein Meister des Exports US-amerikanischer Werte, John F. Kennedy im Rahmen der Operation »Ranch Hand« das verheerende Entlaubungsmittel »Agent Orange« über dem Dschungel ausstreuen lassen, um den Ho-Chi-Minh-Pfad der »Viet Cong« (wie die vietnamesischen Freiheitskämpfer abschätzig, ja rassistisch bezeichnet wurden) »besser erkennen zu können« und noch mehr Menschen umzubringen. Das ist nun 60 Jahre her und nur ein Beispiel für die DNA der USA. Ein weiteres war das Napalm, das die menschliche Haut grausam verbrennen ließ. Ich habe von meinem ersten Besuch in Vietnam 1971 (es war noch Krieg, aber die Friedensverhandlungen in Paris liefen schon) heute noch ein Stück steinharten Napalms im Bücherschrank zu liegen, sozusagen als eingebrannte Erinnerung an die unvergessene DNA des »Landes der unbegrenzten Möglichkeiten«.
Der Einsatz von Agent Orange steht in der Tradition des Genozids an Millionen Indianern Nordamerikas, der schon vor Gründung der USA durch die Neusiedler aus Britannien, Frankreich, Holland und Deutschland begonnen wurde. Vermutlich landete das beschworene US-Gen auf diese Weise vom Alten Kontinent in Nordamerika. Der unter Präsident Lyndon B. Johnson noch über Jahre fortgesetzte Einsatz von Agent Orange in Vietnam steht ebenso in der Tradition der Sklaverei, die in knapp der Hälfte der Gründungsstaaten der USA herrschte. Es ist der Großteil der nordamerikanischen farbigen Bevölkerung, die ihre Ursprünge im US-Sklavenhandel hatte. Das war immerhin bereits zur Zeit der Großen Französischen Revolution (1789 – 1799) in Europa. Auch mit der Aufhebung der Sklaverei 1865 (das ist gerade mal 156 Jahre her) waren Rassismus in den USA, Verachtung und Erniedrigung von Menschen anderer Hautfarbe (es sollten ja auch noch Millionen sog. Latinos hinzukommen), Herkunft, Religion keineswegs überwunden. Man kann dies alles getrost DNA nennen, verharmlost die US-amerikanische Politik damit jedoch durch ihre (heute selbst manchem Linksliberalen nicht fremden) Reduzierung auf die Gene. Und landet umgehend in der nächsten ideologischen Sackgasse.
Die Entwicklung in den vergangenen sechs Jahrzehnten seit dem ersten Einsatz von Agent Orange scheinen mir eine Herausforderung zur gründlicheren Beschäftigung mit der nach wie vor wichtigsten, weil »ungelösten«, menschheitsbedrohenden Frage nach Krieg und Frieden. Seinerzeit existierte die sozialistische Sowjetunion mit ihren Verbündeten in Europa, Asien und Mittelamerika. Sie trug entscheidend zum Sieg des vietnamesischen Volkes über die imperialistische US-Aggression bei. Der Sozialismus war seit 1945 imstande, die kriegstreibende Expansion des Kapitals zumindest einzudämmen (sic!), 40 Jahre lang einen 3. Weltkrieg zu verhindern sowie weitere, lange nicht alle Kriegsherde zu löschen. Doch die Sowjetunion ist nicht mehr, der Sozialismus als globale politische Kraft, der eine militärpolitische Parität herstellen konnte, ist vorerst von der Bühne verschwunden. Das Kapital ist wieder unter sich. Es expandiert, rivalisiert. Es beutet aus, raubt und unterdrückt. Die westliche »Wertegemeinschaft«, die Gemeinschaft der US-DNA, strebt nach globaler US-geführter Dominanz. Und das auch gegenüber anderen Kapitalkonglomeraten. Und da haben sich einige, wie Russland, konsolidiert und sind andere neu erstanden, wie die VR China. Es sind also die guten alten Brechtschen »Verhältnisse«, die diesen Prozess steuern, das Grundverhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Dass Russland und China ihre Entwicklung schützen, was mit der unterschiedlichen Geschwindigkeit der sozial-ökonomischen Entwicklung durchaus zu erklären ist, ist dem US-Gen durchaus ein Dorn im Auge. Der Grund liegt jedoch nicht in einer sozialistischen Entwicklung unter Führung einer kommunistischen Partei oder einer »Putinschen Autokratie«, er liegt eher in den Kapital-Genen der USA, die auf jene Russlands und Chinas treffen und entschiedenen Widerstand erfahren. Und die Deutschen und sonstigen »Europäer« machen munter mit. Die Bundesrepublik übernimmt ja nicht erst heute »Verantwortung«. Agent Orange wurde nicht nur von Dow Chemical produziert, sondern auch von Mobay, einem Gemeinschaftsunternehmen von Monsanto und der Bayer AG (inzwischen unter Führung von Bayer fusioniert), geliefert. Zwischenprodukte stellte »wegen des enormen Bedarfs« auch Boehringer Ingelheim zur Verfügung. Es ist nicht bekannt, dass westdeutsche Bauern damals dagegen massenhaft aufgestanden wären, wie heute gegen Verbote des landwirtschaftlichen Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln derselben Firmen.
Aus dieser Geschichte führt eine direkte Linie zu den Aggressionen der »nachsozialistischen« Zeit, und sie ist lang: die Zerstörung Jugoslawiens durch NATO-Bombardements, die Zerstörung Libyens, des Irak, des Libanon, die versuchte Zerstückelung Syriens, der faschistische Putsch in der Ukraine, versuchte Umstürze in Venezuela.
Womit wir bei den Tätern wären …
Die Ursachen für Aggressionen und Kriege scheinen ziemlich klar zu sein. Nein, Kriege sind nicht mit den Genen des Menschen erklärbar, sondern mit den wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander. In der Geschichte der Menschwerdung gibt es nichts, was der Mensch seinesgleichen nicht angetan hätte. Dabei stehen die Martern in Abu-Ghuraib und Guantanamo denen des Altertums und des Mittelalters in keiner Weise nach, von denen in Auschwitz und Buchenwald, ja und eben auch in Vietnam nicht zu reden. Womit wir bei den Tätern wären. Unmittelbar waren es ja zumeist »einfache« Leute. Wer kannte schon den Kommandanten Colonel Paul Tibbets oder seinen Waffenoffizier Captain William S. »Deak« Parsons, die »Little Boy« über Hiroshima abwarfen, oder den First Lieutenant Jacob Beser von der Radarabwehr, der danach auch noch den Abwurf der »Fat Man«-Bombe über Nagasaki mit organisierte. Wer kennt die Piloten, die das Agent Orange und Napalm über Vietnam versprühten. Einige Folterer von Abu-Ghuraib erlangten durch ihre unmenschlichen Taten traurige Berühmtheit, wie Lieutenant Lynndie England, Tochter eines Bahnarbeiters, der mit seiner Familie in einem Wohnwagenpark in der US-Provinz lebte. Die Namen der Schreibtischtäter, Präsidenten, Regierungschefs, Vorstandsvorsitzende sind schon eher bekannt, werden als solche aber zumeist nicht benannt. Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die Täter allen (!) sozialen Schichten angehören. Und später wird stets von Neuem die Frage gestellt, wie es zu den vielen Mitläufern habe kommen können. Zugleich sollte bedacht werden, dass es eine Minderheit ist, die bewusst für Kriege ist. Aber es sind viel zu wenige, die gesellschaftlich wirksam etwas gegen ihn tun bzw. auch nur wissen, ob und was man dagegen tun kann. Diesen Fatalismus zu überwinden, scheint eine besondere Herausforderung im Kampf für Frieden.
Die aggressive Containment-Politik gegen Russland und China wird mit neuer Verve fortgesetzt. Wir haben es soeben von ebendiesem DNA-Biden bei G-7, NATO und EU gehört, laut und deutlich. Das neue Tool ist der Schlagstock der »regelbasierten Ordnung«. Mit ihm wird versucht, das in der UNO-Charta auf der Grundlage des internationalen Kräfteverhältnisses nach der Zerschlagung des deutschen Hitlerfaschismus festgeschriebene Völkerrecht zu neutralisieren und durch die Internationalisierung US-amerikanischen Rechts zu ersetzen. Sichtbare Folge sind die »bunten Revolutionen«, d.h. die Versuche des Exports der westlichen Pseudo-Werte durch organisierte Regime-Changes. Dabei sollten den US-Strategen ihre eigenen Pleiten auf diesem Feld gerade auch in Vietnam, aber auch in Afghanistan, Irak, Syrien und anderswo nicht entgangen sein. Es geht ihnen demnach nicht um Werte, sondern um die klassischen Ziele der Expansion und Eroberungen ihres Kapitals.
Schlussfolgerungen
- Angesichts der praktisch unbegrenzten selbstzerstörerischen technischen Möglichkeiten der Menschheit bleibt der Kampf um die Erhaltung des Friedens die Aufgabe Nr. 1 für alle politischen Kräfte, für die Kräfte des gesellschaftlichen Fortschritts – erst recht.
- Dafür muss alles getan werden, um nach dem Scheitern des Sozialismus aus der bipolaren Weltordnung nach dem WK II eine echte multilaterale Ordnung entstehen zu lassen, die im Wesentlichen der Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates entspricht und damit das de jure bestehende Völkerrecht auch de-facto wieder in Kraft setzt. Dazu sind eine Loslösung West- und Mitteleuropas aus der politischen US-Umklammerung und eine gleichberechtigte Kooperation mit Russland und China unumgänglich. Nur auf dieser Grundlage lässt sich ein in der gegenwärtigen Entwicklungsperiode unumgänglicher Kräfteausgleich zwischen den großen Kraftzentren herstellen.
- Das hat zugleich den neuerlichen Kampf um die unbedingte Anerkennung des Prinzips der friedlichen Koexistenz zur Konsequenz, das »feindliche Übernahmen« im Sinne der US-»regelbasierten Ordnung« ausschließt.
- Auf diesen Grundlagen sind Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsstrategien zu entwickeln, die das »Phänomen« der permanenten Schaffung eines künstlichen »Bedarfs« an Rüstungsgütern verstärkt einbeziehen.
Nein, »Agent Orange für Menschenrechte« schafft keinen Frieden. Das ist eine Kriegsstrategie. Eine wirksame Friedensstrategie muss zuallererst eine globale Weltordnung zum Ziel haben, die machtpolitisch, also polit-ökonomisch die Kriegsgefahr eindämmt und eine weltweite friedliche Zusammenarbeit befördert. Das ist mit ideologischen, paramilitärischen Werkzeugen, auf die sich die Gen-Amerikaner besonders gut verstehen, nicht zu leisten.
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